9. September 2020In 2020/2

„Unser Miteinander steht auf dem Prüfstand“

Interview mit Alfons Labisch, Mediziner und Medizinhistoriker


von Dr. Susan Tuchel

In Ihrem Buch „Pest und Corona konstatieren Sie eine Dominanz der Seuche und der Seuchenrhetorik in der öffentlichen Debatte zu Corona und Covid-19, wie sie es zuvor noch nie gegeben hat. Gibt es dafür aus medizinhistorischer Sicht nachvollziehbare Gründe?

Steht das wirklich so in unserem Buch? Jede Seuche hat in ihrer Zeit die öffentliche und private Diskussion dominiert – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Das „große Sterben“ des 14. Jahrhunderts hat uns reiche Quellen und vorzügliche Kunstwerke hinterlassen. Aber: Sie haben recht: Bei Covid-19 handelt es sich nicht nur um die erste große Pandemie des 21. Jahrhunderts. Es handelt sich auch um die erste große Pandemie einer Zeit, die wir gemeinhin als das Zeitalter der Globalisierung wahrnehmen. Die Globalisierung ändert keineswegs nur unsere Lebensverhältnisse, die Ökonomie, die Kultur etc.: Vielmehr findet unsere Leben nicht mehr nur irgendwo, sondern gleichzeitig überall statt. Unsere neue Lebenswelt sorgt dafür, dass uns das Seuchengeschehen – etwa über die entsprechenden Dashboards oder die so genannten „sozialen Medien“ – weltweit unmittelbar vor Ort präsent ist: China, Italien, Deutschland, die USA – alles das erleben wir zur selben Zeit mit. Das hat es in dieser Form noch nie gegeben. Und so viel lässt sich schon jetzt sagen: Entgegen unser aller Voraussagen und Hoffnungen zu Beginn dieses Jahres: Covid-19 wird als eine der großen Seuchen in die Weltgeschichte eingehen.

Sie sprechen in Ihrem Buch von „skandalisierten Krankheiten“. Sehen Sie ein Missverhältnis zwischen Fakten und der Aufregung im öffentlichen Raum bei der Corona-Pandemie?

Eine „skandalisierte Krankheit“ ist eine Krankheit, deren öffentliche Wahrnehmung in einem eklatanten Missverhältnis zu ihrer epidemiologischen oder demographischen Bedeutung steht. Die „echten Killer“ sind die Seuchen, die still und heimlich Tausende, wenn nicht gar Millionen Menschen dahinraffen. Musterbeispiel ist die Cholera des 19. Jahrhunderts: Zwar war der Anteil der „skandalisierten“ Cholera zwar recht gering, aber der Angst vor der Cholera verdanken wir die moderne Hygiene-Infrastruktur und zwar sowohl in den äußeren Verhältnissen als auch im persönlichen Verhalten. Dass in derselben Zeit in Deutschland bis zu 40 Prozent der Neugeborenen im ersten Lebensjahr verstarben, wurde hingenommen: das war immer so gewesen und fiel daher nicht weiter auf. Covid-19 ragt aus diesem Gegensatzpaar „skandalisierte Krankheit“ versus „echte Killer“ heraus. Trotz der hohen und rasant voranschreitenden Infektionsraten ist die Gesamtsterblichkeit immer noch recht gering: selbst in den Staaten, die die Krise nicht so gut bewältigt haben wie Deutschland. Aber wir wissen aus anderen Ländern, dass bei ungebremsten, geradezu explosionsartigen Infektionsraten das Gesundheitssystem zusammenbricht und es zu schrecklichen Zuständen innerhalb und außerhalb der Krankenhäuser kommt. Die Berichte aus Wuhan, die jetzt allmählich auch bei uns bekannt werden, zeigen Bilder des völligen Chaos. Das gilt ebenso für Oberitalien oder für manche Staaten und Städte der USA. Der gewisse Zwiespalt zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der – immer häufiger zu beobachtenden – privaten Sorglosigkeit mag darin liegen, dass nur wenige unmittelbaren Kontakt zu Menschen haben, die Covid-19 überlebt haben. Wir wissen jetzt, dass das Sars-2-Virus alle Organe befällt und möglicherweise schwere Nachwirkungen hat. Wer das Infektionsgeschehen im unmittelbaren Familien-, Freundes- oder Nachbarschaftskreis miterlebt hat, wird Covid-19 nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Welche gesellschaftlichen Auswirkungen werden die getroffenen gesundheitspolitischen Maßnahmen haben?

Aus unserer Alltagserfahrung und aus mittlerweile vorliegenden Untersuchungen wissen wir, dass etwa 80 bis 90 Prozent unserer Mitmenschen die wenigen Vorschläge eines situationsgerechten Verhaltens befolgen. Aus den historischen Kämpfen um den Impfzwang wissen wir, dass es immer eine kleine Gruppe absoluter Gegner öffentlicher Gesundheitsmaßnahmen gibt – und wohl immer geben wird. Jedenfalls werden unserer Einschätzung nach einige Verhaltensregeln übrigbleiben: mehr Distanz im Alltagsleben und wohl auch das gelegentliche Maskentragen zum Eigen- und zum Fremdschutz. Die private und berufliche Kommunikation wird sich nachhaltig ändern: Video-Konferenzen statt mühseliger Anreisen – teils über Kontinente hinweg. Die Arbeit wird sich ändern: Home-Office wird zunehmen. Die gesundheitspolitischen und – administrativen Maßnahmen und Mittel auf örtlicher Ebene – etwa die Ausstattung der Gesundheitsämter etc. – und auf den nachfolgenden Ebenen werden hoffentlich gründlich evaluiert und verbessert werden. Der Föderalismus hat sich prinzipiell bewährt – auch wenn es hier immer wieder zu politischem Gerangel kam, das andere als seuchenhygienische Gründe hat. Jedenfalls haben Mecklenburg-Vorpommern und Bayern als jeweils am wenigsten bzw. am schlimmsten betroffene Länder auch jeweils andere Probleme und Handlungszwänge. Und einige Landräte und Bürgermeister haben durch entschlossenes Vorgehen bundesweite Signale gesetzt – sei es der Landrat von Heinsberg oder der Bürgermeister von Jena. Wünschenswert wäre, wenn sich nach dem Abklingen der Seuche Ärzte, Mediziner, Politiker und Administratoren zusammensetzen würden, um eine nachhaltige vorausgreifende Gesundheitssicherung gegen die neuen Seuchen aufzubauen. Denn eines ist gewiss: die nächste Epidemie kommt bestimmt – und auch Corona wird bleiben!

Sie zeichnen in Ihrem Buch ein Hintergrundbild für das aktuelle Seuchengeschehen. Was können wir aus der Geschichte der Epidemie lernen?

Ebenso wie das Virus alle Organe eines Menschen befallen kann, wird es keinen Bereich des öffentlichen und privaten Lebens geben, der nicht von Covid-19 berührt werden wird. Covid-19 hat, wie jede große Seuche, sämtliche Masken des privaten und öffentlichen Lebens heruntergerissen. Neben unverständlichem Handeln erleben wir viel Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und Fürsorge auf allen Ebenen der Gesellschaft. Alle diese verschiedenen Aspekte des Seuchengeschehens und seiner kurz- und langfristigen Auswirkungen können hier gar nicht angesprochen werden. Es bleibt zu hoffen, dass wir alle nach dem Abklingen der Seuche nicht zum „business as usual“ zurückkehren, wie dies bei früheren Seuchen der Fall war. Nicht nur die örtliche, regionale, nationale und internationale Gesundheitssicherung gilt es zu überdenken. Unser Miteinander im privaten Leben – Zuwendung aus der Distanz – Unser Wirtschaftsleben – Wie sieht es mit den Fertigungs- und Lieferketten aus? – Unser kulturelles Leben – Unser politisches Handel – Gibt es wirklich eine globale Politik, die den globalen Lebensund Produktionsverhältnissen entspricht? – stehen auf dem Prüfstand.

Welche Konsequenzen ergeben sich für Sie aus der gegenwärtigen Seuchenlage für die künftige Organisation öffentlicher Gesundheit?

Covid-19 ist mehrfach vorausgesagt worden. Und zwar nicht nach dem Motto „Wenn der Hahn kräht…“, sondern sehr präzise, auf den Monat und auf den Ort genau. Anders ausgedrückt: Experten sind erst dann zu Rate gezogen worden, als es allerorten bereits brannte. Das darf nicht wieder geschehen. Wir hätten uns rechtzeitig vorbereiten können. Die Entstehung und Verbreitung der weitaus meisten „new emerging diseases“ ist bekannt: Diese neuen Infektionskrankheiten entstehen aus dem Umgang der Menschen mit Tieren und mit der Natur sind also menschengemacht; die Krankheiten folgen den Verkehrswegen, heutzutage insbesondere dem internationalen Flugverkehr. Die Epi- und Pandemien sind also ebenfalls menschengemacht. Das heißt im Umkehrschluss: Wir können die Entstehung und Verbreitung dieser Krankheiten verhindern – und zwar ebenso, wie es die Ärzte, Mediziner, Politiker und Administratoren des 19. Jahrhunderts geschafft haben, die Seuchen der Industrialisierungsära in den Griff zu bekommen. Allerdings: dazu bedarf es großer Mittel und eines langen Atems. Aus Sicht einer „pragmatischen Medizingeschichte“ ergeben sich für meinen Mitautor Heiner Fangerau und mich folgende Denkvorschläge und Aufmerksamkeitshorizonte, mit denen sich näher zu beschäftigen lohnen würde: 

  • Gefährliche Krankheitserreger und frühe Infektionskrankheiten müssen bereits am Ort ihres Entstehens verhindert und systematisch eingegrenzt werden. 
  • Die internationale Surveillance muss zu einer internationalen Maintenance- und Containment-Strategie an den internationalen Verkehrsknotenpunkten ausgebaut werden. 
  • Wissenschaft und Forschung müssen weltweit barriere- und vorurteilsfrei vernetzt sein. 
  • In Deutschland müssen nach Abklingen von Covid-19 die verschiedenen Arten, mit der Pandemie umzugehen, systematisch analysiert, entsprechende Maßnahmen auf den unterschiedlichen Ebenen der Seuchenabwehr eingerichtet und auf Dauer vorgehalten werden. 
  • Unsere Abwehrmaßnahmen sollten auch in unserem Land die weltweiten elektronischen Möglichkeiten und Standards nutzen. Entscheidend sind unsere Werte: Wir haben uns entschieden, füreinander verantwortlich zu sein. Handeln wir also danach.

Pest und Corona, , „Unser Miteinander steht auf dem Prüfstand“Buchtipp
„Pest und Corona“
Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft
Heiner Fangerau / Alfons Labisch
Hardcover, 192 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-451-38879-8, HERDER 2020
Als E-Book: 9,99 Euro, ISBN 978-3-451-82167-7, HERDER 2020


Kurzvita

Alfons Labisch, , „Unser Miteinander steht auf dem Prüfstand“Alfons Labisch (1946) ist Historiker, Soziologe und Arzt. 1979 wurde er Professor für Gesundheitspolitik und Medizinsoziologie an der Universität Kassel. Von 1991 bis 2015 war er Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, von 2003 bis 2008 deren Rektor. Seit 2004 ist er Mitglied der Leopoldina. Seit 2016 ist Labisch ehrenhalber Professor der Beijing Foreign Studies University, Peking, seit 2019 ebendort Distinguished Professor for Global History of Science and Medicine. Seine Forschungsgebiete sind u. a. die Geschichte des Wechselverhältnisses von Gesundheit, Medizin und Gesellschaft, die Geschichte der Seuchen, Medizin-/Wissenschaftsgeschichte im internationalen Transfer (Europa-Ostasien), die Geschichte menschlicher Bewegung und die Wissenschaftsgeschichte der Malaria. 1992 erschien sein Buch „Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit“. Im Sommer dieses Jahres erschien bei Herder das vielbeachtete Buch: „Pest und Corona. Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft“, das er zusammen mit Prof. Heiner Fangerau, dem Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Heinrich-Heinrich-Universität, verfasst hat.

Ähnliche Beiträge