Foto: Axel Grube Archiv
Die Düsseldorfer Kunstszene kann seit vielen Jahren als eine Art kleines Retro-Karussell wahrgenommen werden. Mit Sticker-Slogans und wiedererkennbaren Lederjacken haben sich einige medial bekannte PlayerInnen früh auf ihre Modi festgelegt und jeder fähige Opportunismus entwickelt irgendwann einen Staatspreis oder die ersehnte Großausstellung. Mich interessiert seit vielen Jahren eher jene spannende, aber weniger sichtbare Kunst-Szene dieser Stadt, die sich direkt hinter der immer gleichen ersten Reihe abspielt – die Menschen und KünstlerInnen, die ungehörte Töne anschlagen und mit künstlerischen Positionen aufwarten, die tief in unsere Kultur hineinwirken.Ein Interview von Carsten Reinhold Schulz
Der Düsseldorfer Axel Grube ist so ein Philosoph, Autor, Sprecher und Musiker – ein Universal-Künstler im besten Sinne. Kennengelernt haben wir uns bei Aktivitäten rund um das Hochschulradio kurz vor der Jahrtausendwende. Ich war auf der Suche nach Sprechern und seine Stimme hatte mich sofort beeindruckt. Also habe ich ihn im Kafka-Jahr 2024 noch einmal zu einem Gespräch aufgesucht: Über sein neuestes Buch und einige seiner bemerkenswerten Projekte.
Carsten Reinhold Schulz: Wie bist Du nach Deinen Studienjahren der Philosophie eigentlich zum Thema Sprechen gekommen und zum Sprecher geworden?
Axel Grube: Das war der Weg zur Verbindung von Laut-Lesen und Reflexion. In der Oberstufe des Gymnasiums weckte ein Philosophie-Lehrer, Herr Kunze, mein Interesse an der Philosophie. In den ersten Studienjahren an der Heinrich-Heine Universität dann die Enttäuschung. Noch nicht einmal in Ansätzen fand ich hier etwas, was meinem geweckten Interesse entsprach; ich hatte den Eindruck, dass überall mehr Philosophie sei als an diesem Ort der akademischen Zuständigkeit.
Der Kontrast zu der akademischen Ödnis eröffnete sich mir dann in der Umgebung zwischen der Ratinger Straße und der Kunstakademie in den frühen 1980er Jahren. Ich fand hier Künstlerinnen und Künstler, bei denen die Genres der Kunst und Philosophie, der Musik und Literatur nahtlos ineinander übergingen, die die Genres und deren Beziehungen untereinander schon weitgehend selbst kultiviert hatten. In diesem Umfeld erhielt ich die Anregung, eine Arbeit als Musiker und Produzent in Beziehung zu meiner Beschäftigung mit der Philosophie zu verfolgen.
CRS: Und was hat Dich letztlich dazu gebracht, dieser Anregung zu folgen?
AG: Ich hatte bei meiner Tätigkeit in Tonstudios die Berufs-Sprecherinnen und Sprecher kennengelernt, die zum Aufsprechen von Filmkommentaren ins Studio kamen und in ihrer beindruckenden Professionalität mit Sprache umgingen. Über den Sprecherzieher Prof. Wilhelm Pitsch, der in Köln, vor allem für Sprecher im Umfeld des WDR tätig war, erhielt ich mein Schlüsselerlebnis. Von ihm erfuhr ich in zweijähriger Ausbildung, wie man einen Text mit subtilen Mitteln, mit Pausen, Betonungen, vor allem auch Nicht-Betonungen in seiner Sinngestalt überhaupt erst gleichsam freilegen und erfahrbar machen kann; für sich selbst und die Hörer. Ein neues Eros, ein neue Lust an den Texten wurde möglich.
CRS: Vermutlich war das auch ein starker Impuls zur bald entstehenden Verlags-Idee Deines Hörbuch-Verlags?
AG: Ja, das stimmt. In der bald darauf beginnenden Produktion für Hörbücher, angefangen mit Märchen-Lesungen, Rilke, Heine, zu philosophischen Texten übergehend, begann für mich erst einmal ein ganz anderer Umgang mit den Texten. Ich erhielt auch die Resonanz von HörerInnen, dass ihnen, z. B. bei Buchtexten, für die sie immer eine Neigung hatten, die sie lesend jedoch nicht verstehen konnten, im Hören ein Verständnis möglich war. So wurden mir Literaturen – wie etwa auch die Schriften Kafkas – in einer ganz anderen Form gewahr.
CRS: Du hast soeben im Kafka-Jahr 2024 eine poetische Philosophie Franz Kafkas geschrieben und bei bibliothek kepos herausgegeben. Das Buch nennst Du „Im Paradies wie immer“. Beschreibe doch bitte das Leitmotiv, das für Dich dahinter steht.
AG: Der Titel des Buchs »Im Paradies wie immer« ist ein Zitat Kafkas aus der Zeit seiner Besinnung; der Zeit seiner Vergewisserung über sein Denken, den Horizont seiner Arbeit, die Überlieferung aus der er schöpft. Es ist ein Zitat aus seiner Zürauer Zeit, im Herbst und Winter 1917/1918, die Kafka auf dem Bauernhof seiner Schwester Ottl im böhmischen Dorf Zürau, dem heutigen Zirzem, verbrachte.
Im Sommer 1917 hatte Kafka die Diagnose seiner Krankheit, der Infektion mit Lungen-Tuberkulose, erfahren. So kam es zur Beurlaubung von seinem Brotberuf als Jurist und zur „Auszeit“. Eine Zäsur, ein Moment, in dem sein Wunsch der Vergewisserung über seine Arbeit und sein Denken bestimmend wurde: Einen noch unbekannten Kafka möchte ich, ausgehend von Kafkas eigener Vergewisserung, erfahrbar machen. Im Verweis-Zusammenhang der verschiedenen Schriften, den Tagebüchern, Prosatexten, usw., offenbart sich der Zusammenhang eines Denkens in schöner Sinnfälligkeit. Es ist ein ermutigendes Denken und wird in einer so nie dagewesenen Form einer Philosophie in ihrer poetischen Plausibilität erfahrbar. Die Entdeckung des Zweifellosen in sich, scheint dabei das Agens einer praktischen Philosophie zu sein, bei der es Kafka um die nächsten Bedürfnisse des Lebens geht, vor allem um die Frage der Bildung eines Verantwortungsgefühls, einer ethischen Musikalität.
CRS: Als Philosoph ist Kafka selbst bisher nicht in Erscheinung getreten. Kann man trotzdem von einer Philosophie, d. h. vom Zusammenhang eines Denkens sprechen, welches auch Kafka selbst – spätestens nach Zürau – klar vor Augen stand?
AG: Mit den Zürauer Betrachtungen erscheint ein, im Gegensatz zum allgemeinen Bild der Ausweglosigkeit, ungemein zuversichtlicher Kafka. In einer Form, wie man sie sich allerdings unsystematischer kaum denken kann, erscheint im gegenseitigen Verweis der Zürauer Schriften, wie auch in Anklängen zu den Prosa-Texten, Briefen und Tagebuchnotizen, ein Zusammenhang des Denkens, die beispiellose Form eine poetischen Philosophie in einer hohen poetischen Plausibilität. Es erscheint ein Denken und – davon untrennbar – eine Persönlichkeit, wie sie auch die Freunde, Felix Weltsch, Max Brod und seine letzte Lebensgefährtin, Dora Diamant erlebten und versuchten zu erinnern.
Aus dem Gefühl, hier sei eine Rückkehr zu einem wieder unmittelbaren Erlebnis der Dichtung Kafkas möglich, habe ich die Arbeit zu Kafka über Jahrzehnte betrieben.
CRS: Du hast in unserem Vorgespräch Zusammenhänge von Wirkung über die andauernde Arbeit zu Kafkas poetischer Philosophie und zu Deinem Leben gefunden. Ich denke da, als Beispiel, an Deinen Verlag Onomato, der ja auch die Namensgrundlage für einen noch heute existierenden gleichnamigen Kunstverein legte.
AG: Es ist die Möglichkeit einer »vermittelten Unmittelbarkeit«, auch erwachsen aus einer jahrzehntelangen Tätigkeit in dem Bild einer ›oral Tradition‹ – ein Verständnis, nach dem auch der Verlag Onomato sich wesentlich entwickelt hat. Im Wechsel des Laut-Lesens, des Vorlesens, später auch des auswendig Rezitierens und einer reflexiven Beschäftigung, hat diese Form einer immer offenen Rückkehr, den Zugang zur unmittelbaren Erfahrung geschaffen. Das bringt, im Gegensatz zur rein akademischen Form, einen lebendigeren und für das Leben bedeutsameren Umgang mit der Literatur für mich hervor. Mit dieser Figur einer »vermittelten Unmittelbarkeit« ist zugleich aber auch ein zentrale anthropologische Figur, eine Grundmotiv im Denken Kafkas angezeigt.
CRS: Das klingt fast wie ein spannendes Paradoxon. Was genau ist mit diesem Grundmotiv gemeint?
AG: Das Grundmotiv ist ein Denken, das Kafka, in der Unterscheidung auch von der christlichen Dogmatik, in seinen wunderbaren Paraphrasen über die Sündenfall-Erzählung im Sefer Bereschit, also im Buch Moses, fasst: Der Sündenfall ist für Kafka nicht, wie in der christlichen Dogmatik, ein Ursprungs-Ereignis, welches den Menschen in seiner Natur und „sündhaften“ Belastung geprägt hat, und ihn nur auf eine von außen kommende Erlösung hoffen lässt. Die Möglichkeit der Hinwendung beschreibt Kafka auch als wirkliche Aufgabe des Menschen:
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben.
Mit einem solchen anthropologischen Grundmotiv steht Kafka nicht allein; auch bei Hölderlin finden wir die existentielle Spanne als Bild des Übergangs zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens beschrieben. Als „Bogen des Lebens“ und als die exzentrische Bahn der menschlichen Existenz. Ebenso bei Heinrich von Kleist und Sören Kierkegaard.
CRS: Ein überaus aktuelles Thema. Die Hinwendung zur sinnlichen Komplexität des Lebens scheint mir ein Schlüssel für ein zukünftiges sinnvolles Zusammenleben der Menschen in dieser Welt.
AG: Durchaus, aber das Essen vom Baum der Erkenntnis ist für Kafka das Symbol seiner Existenz, der Aufbruch zur Selbst-Erkenntnis, zur Freiheitsmöglichkeit, wie aber auch zu den komplementären Momenten der Angst und Verzweiflung.
Der Baum des Lebens, der zweite Paradiesbaum also, der in der christlichen Eschatologie völlig aus dem Blick geraten ist, stellt symbolisch die Perspektive der Hinwendung dar. Als schlimmste Strafe des Sündenfalls imaginiert Kafka nicht die Vertreibung oder die Zerstörung des Paradieses, sondern die Verhinderung der Hinwendung, und damit insgesamt die Unmöglichkeit einer und damit unserer eigenen ewigen Entwicklung (Kafka).
CRS: Kommen wir jetzt zu einem aktiven Stück Musikgeschichte dieser Stadt, an der Du immer immer noch schreibst. An sich wäre das schon allein ein Interview wert: „-keit“, das musikalische Experiment von Dir und Detlef Klepsch existiert als Form und Kooperation schon gut vierzig Jahre. Reden wir über eine Band oder ein Konzept? Was ist „-keit“?
AG: Die Musikgruppe –keit, mittlerweile nun keit-project, geht in ihren Ursprüngen bis auf die ›legendäre‹ Zeit in Düsseldorf zurück, die frühen achtziger Jahre im Umfeld der Ratinger Straße und der Kunst-Akademie Düsseldorf. Wir waren ein lebendiges Element der frühen Punk- und New-Wave Szene. Eine Bewegung als Versuch, sich den klischeehaften Formen und gestanzten Patterns, der sich eher langweilig wiederholenden Künsten und Musiken, als Aufbruch, als provokative Wahrhaftigkeit, entgegenzustellen. Es galt, in einem so genannten genialen Dilettantismus, das andere, originäre oder authentische zu finden. Später ergab sich dann eine Arbeits- oder Spielweise, die vor allem aus der Improvisation mit verfremdeten Instrumenten schöpfte, wie etwa dem präparierten Klavier, teils auch mit verstimmten oder manipulierten Gitarren. Wir haben aber über die Zeit eine dialogische Spielweise entwickelt, in der, auch als Form eines Humors, das Unplanbare, aber doch irgendwie deutlich stimmige, hervortreten konnte. Hier liegt auch eine – in aller Bescheidenheit – Parallele zu Kafkas ersehnter Schreibweise. In einer Nacht im Jahr 1912 erlebte er in einem nächtlichen Schreiberlebnis bei der Niederschrift von »Das Urteil«, dies unmittelbare, traumähnlich-unbewusste Schreiben, das er von da an immer wieder erwartete und dass ihm als Gewähr für die Berührung einer Wahrhaftigkeit galt; alles andere erschien ihm als »Flickwerk«. Für uns gilt: Die Musik von keit-project ist über die Jahre, ja inzwischen über die Dekaden kaum wahrgenommen wurden; wir laufen mit den inzwischen sechs Alben völlig unter dem Radar. Aber diese Musik ist da, und wird ihren Weg nehmen.
CRS: -keit hat, wie Du erwähnt hast, schon in den achtziger Jahren mit präparierten Klavieren gearbeitet. Eine Methode, der sich Musiker in Düsseldorf bis heute immer wieder erfolgreich angeschlossen haben. Der Flügel ist natürlich ein starkes kulturelles Symbol. Was fasziniert daran am meisten?
AG: Der Flügel ist ein sehr ›starres‹, in seinem tonalen Ausdruck sehr festgebautes Instrument und fordert daher besonders zur ›Dekonstruktion‹ und Verfremdung heraus. Dieser Beweggrund war aber auch vorgeprägt durch die ermutigenden Motive bei John Cage, bei dem etwa auch ein Stück wie 4:33, den Zugang zum Hören, zur Kunst plötzlich und überhaupt auf eine ganz andere Ebene hebt. Hier schließt sich ein Kreis. Waren doch Cage, auch Paik, bei dem Detlef Klepsch studiert hatte, Figuren, die, auch über die Kölner Szene um das Studio für elektronische Musik vermittelt, wichtige Impulsgeber für die besondere Zeit in den Achtzigern in Düsseldorf.
CRS: Dein Verlag heißt Onomato. Du hast erklärt, das Wort stammt aus dem Alt-Griechischen und bedeutet in etwa „Wortlaut“. Eine sehr passende Begriffsfindung für einen Verlag mit Übergängen von Literatur, Laut-Lesen, Klangkunst und Musik.
AG: Der Verlag ist sagen wir, eine Form der Überlieferung in der Gestalt eines Verlages geworden.
Zunächst war der in den 1990ern sich entwickelnde Verlag, für etwa 10 Jahre, ein reiner Hörbuch-Verlag. Das Programm erwuchs aus den Vorlieben und der philosophisch-literarischen Beschäftigung das Verlegers. Kleine Autoren-Arbeiten kamen, in zusammenfassenden und biografischen Darstellungen hinzu: Über Hannah Arendt, die Stoa, die Vorsokratiker, Giordano Bruno, die Gnosis, die jüdische Kabbala, Nietzsche, Heine, Rilke, Hölderlin, Mozart, den Eros usw.
Aus dem Zusammenhang, den Anklängen und verwandten Motiven erwuchs ein eigener Tenor. Dieser Zusammenhang aber hat nicht den Charakter einer Tendenzliteratur. Er ist in der offenen, ich möchte sagen poetischen Form einer Überlieferung, einer Erinnerungkunst in der Moderne, erfahrbar. In der Ausprägung einer solchen Erinnerungskunst ist der onomato Verlag wohl eher ein Experiment als ein Wirtschaftsunternehmen; beinahe unbeabsichtigt hervorgegangen aus einer Passion für die Dinge … – und nun verfolgen wir mit Interesse, was es auch für eine unternehmerische Kultur bedeuten mag, mehr von den Dingen selbst auszugehen. Hier entsteht, auch in der Nähe zum onomato Künstlerkreis, eine Form, bei der die Mentalität des Wirtschaftens Teil der künstlerischen Ausprägung ist. Die Zusammenarbeit in der Verflechtung von Künstlergruppe, Familienbetrieb und Wahlverwandtschaften zur Ausarbeitung einer neuen Erinnerungskunst und Überlieferung mag in diesem Sinne als eine soziale Plastik, mag selbst als ein künstlerisches Projekt verstanden werden.
Axel Grube
Im Paradies wie immer
Eine poetische Philosophie Franz Kafkas
Buch mit Volltextlesung
Bibliothek kepos
ISBN978-3-949899-15-7
Foto: Carsten Reinhold Schulz & Archiv Axel Grube