Ich versuche nicht, dem Publikum vorzuschreiben, was es denken soll. Es ist frei, es zu interpretieren, wie es möchte.
Robert Wilson im Gespräch mit Thomas Majevszki über „Moby Dick“, seine neueste Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Robert Wilson ist zweifellos einer der wichtigsten Repräsentanten des Gegenwartstheaters weltweit. In seinen Arbeiten verbindet er auf einzigartige Weise Tanz, Performance, Lichtdesign und Musik mit dem Schauspiel und erzeugt so eine unverwechselbar dichte Atmosphäre. Dabei arbeitete er u. a. mit Heiner Müller, Tom Waits, Susan Sontag, Laurie Anderson, William S. Burroughs, Lou Reed, Jessye Norman, Luigi Nono und Marina Abramović und erhielt neben zahlreichen anderen Preisen und Auszeichnungen im Jahr 2014 das Bundesverdienstkreuz. Am Düsseldorfer Schauspielhaus ist „Moby Dick“ seine mittlerweile 4te Inszenierung.
Robert Wilson: Nun, es fühlt sich an wie ein Zuhause. Ich habe eine wirklich gute Beziehung zu dem gesamten Theater, von der Verwaltung bis zu den Technikern, allen Abteilungen, Kostüm, Make-up. Es ist wie eine Familie und ich habe sehr persönliche Beziehungen zu allen hier. Wenn ich beispielsweise zur Pariser Oper gehe, so stellt es für mich eine andere Art von Beziehung dar, weil alles sehr abteilungsorientiert aufgebaut ist. Hier ist es anders, weil in meiner Arbeit, die ein Gemeinschaftswerk ist, alle Abteilungen gleich wichtig sind. Ob jemand ein Seil für die Kulisse zieht oder einen Knopf drückt, es muss alles genau im richtigen Moment passieren. Jeder muss zuhören, ob hinter der Bühne, im Orchester oder auf der Bühne. Alle haben ihre Freiheiten, aber alle arbeiten im gleichen Takt, dann entsteht im Theater eine Einheit, die sehr selten ist, aber die ich hier in Düsseldorf finde. Diese Art von Beziehung ist sehr selten. Deshalb arbeite ich immer wieder gerne hier.
„Moby Dick“ ist ein großartiges literarisches Werk. Man muss es respektieren, aber darf nicht sein Sklave werden, sondern muss seinen eigenen Weg finden, um damit umzugehen. Ich möchte nicht umschreiben, was Herman Melville geschaffen hat, aber ich kann Ideen aus dieser mythischen Geschichte nehmen. Es ist eine Geschichte, die seit Jahrhunderten erzählt wird, und sie findet sich in vielen Kulturen und Sprachen wieder. Sokrates sagte, dass das Baby allwissend geboren wird. Es ist ein Prozess des Entdeckens. Wir entdecken die Klassiker immer wieder neu. Diese klassische Geschichte ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt.
Man sagt, dass Babys träumend geboren werden, mit sich schnell bewegenden Augen. Wovon träumen sie? Ich denke, das sind die Träume, mit denen wir geboren werden. Später im Leben müssen wir sie entdecken. Wir entdecken die Klassiker immer wieder neu. Jede Generation, jedes Jahrzehnt oder was auch immer wir als Avantgarde betrachten, entdeckt die Klassiker neu. Diese klassische, sich immer wiederholende Geschichte ist Teil unseres Wissens.
Nein, ich möchte keine Zeichen setzen. Zeichen sind langweilig. In meinem Theaterstil hatte ich beispielsweise Marianne Hoppe, die King Lear spielte. Ich denke nicht viel über solche Dinge nach. Es geht mir um das, was ich höre und sehe. Ich versuche nicht, dem Publikum vorzuschreiben, was es denken soll. Es ist frei, es zu interpretieren, wie es möchte.
Theater ist immer auch Tanz, man atmet, man bewegt sich. Jede Abfolge von Klängen, die man hört, wird nie wieder genauso passieren. Das Einzige, was konstant ist, ist die Veränderung. Es ist wichtig, sich dieser ständigen Veränderung bewusst zu sein, ob man Theater macht oder es anschaut. Als Regisseur muss man sich dieser Veränderung immer bewusst sein.
Es war eine Zusammenarbeit. Alle meine Arbeiten sind Kollaborationen, aber wenn ich mit Anna Calvi arbeite, so ist es eine andere Art der Zusammenarbeit als mit Tom Waits. Wenn ich mit Philip Glass arbeite, ist es wieder völlig anders. Meine Arbeit ändert sich mit den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Ich habe einmal mit Lou Reed und Luigi Nono gearbeitet. Bei Nono ging es nur um Ruhe, leise Töne, die Stille, während es bei Lou Reed um Krach ging, um Lautstärke. Meine Arbeit ändert sich mit den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Es gibt keinen Grund für mich, mich zu wiederholen. Die Arbeit eines Künstlers ist wie ein Fluss, der kontinuierlich immer weiter fließt. Es ist wie ein Baum, der nach dem Sturm gebrochen wird, aber dabei immer noch derselbe Baum ist. Obwohl die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, sehr unterschiedlich sind und auch meine Arbeiten immer sehr unterschiedlich sind, bin ich immer dieselbe Person.
Lieber Robert, vielen Dank für Ihre kostbare Zeit und dieses wirklich interessante Gespräch!
Titelfoto: Richemont | Inhalt Fotos: Lucie Jansch