Das Unsichtbare sichtbar, das Ungreifbare haptisch berührbar machen: Jürgen Freund stellt universelle Phänomene bildlich dar und bringt sie uns zum Anfassen nah. Um uns das ‘Eigentliche’ – die schwer zu fassende universelle und gleichzeitig persönliche Essenz – zu präsentieren, werden Zeit, Zeitlosigkeit, Dasein und Vergehen zusammengefasst, auf ein Quadrat, Kreis oder Dreieck gebracht.
Jürgen Freunds Bilder sind eine Welt für sich. Tauchen wir in sie ein, zeugen sie von dem, was war, hätte sein können – sein könnte oder noch wird durch unsere eigene Vorstellungskraft.
Der Künstler führt uns Prinzipien der Natur vor, genügt sich aber nicht darin, ihnen zu folgen. Er nimmt kein existierendes Stück Eisen oder Kupfer, wartet nicht auf natürliche Verwitterung durch den Zahn der Zeit, provoziert sie auch nicht durch zum Beispiel im Garten eingraben oder in den Regen stellen. Er entscheidet sich für Malerei, mischt sich eine eisenhaltige Farbe (oder kupferhaltige für Grünspan), bemalt die gewählte Form und setzt durch Säuren einen Oxydationsprozess in Gang, den er dann abpasst und innehält, sobald ihm das Bild gefällt. So werden Prozesse initiiert, beschleunigt, unterbrochen, eingehalten, gestoppt; sie erstarren und bleiben erhalten im gewählten Moment.
Ein Rost-Monochrom mag einer oxydierten Eisenplatte zum Täuschen ähnlich erscheinen, ist aber ein Gemälde, ein Bild, auf einen Rahmen gespannt. Das wiederum verleiht ihm eine Leichtigkeit und ganz individuelle Realität. Entstanden ist eine Art von abstrakter trompe-l’œil-Malerei, die es möglich macht, essenzielle Aspekte unseres Daseins sowie die Spuren von Erlebtem handgreiflich „einfangen“ und „aufhängen“ zu lassen.
Bei Dimensionen wie 4 x 4 m oder 8 x 4 m erhalten die Installationen eine ergreifende Monumentalität mit eigener Räumlichkeit, sodass die Erfahrung des Raums und des Selbst darin eine neue wird. Abgrenzungen wie Wand, Decke, Ecke verschmelzen im Hintergrund und das Einssein mit dem Werk tritt hervor.
Werke, auf Holz grundiert mit einer Farbe, übermalt mit einer anderen, entblößen durch „Einschnitte“ oder „Risse“ der oberen Lage das darunter Liegende, vormals Verdeckte. „Wunden“ nennt der Künstler diese Eingriffe und vermittelt somit, dass seine Bilder Symbole sind für unsere Existenz. Die künstlich eingeleiteten Prozesse der Eisenspan-Oxydation repräsentieren Vorkommnisse, die das Leben und somit das Bild und unsere Position dazu beeinflussen und verändern.
„Rost als Farbe und Material hat Wärme und Tiefe, das kommt aus dem Material heraus. Der gleiche Farbton als pure Farbe enthält nicht die Aussage; es muss das Material sein.“
Durch die farbliche Absetzung oder Kontrastierung des tiefgründigen Rostrots mit geometrischen oder organischen Formen auf unterschiedlichen Materialien bringt Jürgen Freund gegenteilige und gleichzeitig komplementäre Elemente ins Spiel, die sich in einem harmonischen Ganzen zusammenschließen. Malerische Kompositionen wechseln sich ab mit Kompositionen von Einzelteilen, sowie matte Relieffarben mit spiegelnd glänzendem Lack.
Ultramarinblau hat eine kosmische Tiefe, führt uns ins Unendliche und ist Freunds deklarierte Lieblingsfarbe. Auf unsere Welt bezogen werden seine abstrakten Formen leicht zu Himmel/Erde, Land/Meer in abstrakter graphischer Zeitlosigkeit. Warmes Rot im Kontext mit dem Rostbraun evoziert Feuer in der Tiefe der Erde und das heiße, flüssige – eisenhaltige – Erdinnere.
1949 in Koblenz geboren, kam Jürgen Freund in seine Wahlheimat Düsseldorf durch sein „Freie Grafik“-Studium bei Professor Rolf Sackenheim an der Düsseldorfer Kunstakademie. Dem Grafikpensum folgte er nur die ersten beiden Jahre und begann bereits 1974 zu malen, und zwar damals schon mit Rost (und Grünspan) – was ihn jedoch nicht hinderte, 1978 bei Professor Sackenheim als Meisterschüler abzuschließen. Im selben Abschlussjahr belegte er zudem Fotografie an der Folkwang Schule in Essen.
Das darauffolgende Stipendium der Akademie der Künste Berlin in der Villa Serpentara bei Rom begründete seine tiefe Verbindung zu Italien. Die römischen Mauern, Zeugen der Zeit mit eigener archäologischer Sprache, verwittert oder gut erhalten, mit tiefen Furchen und flüchtigen oder markanten, natürlichen oder menschlichen, zufälligen oder gewollten Markierungen, schürten seine lebenslange Faszination für die Zeichnungen des Lebens in Materialien.
Sammlung ERGO Photos: Mark Záhorsky
Zuerst photografierte er diese Reliquien des Vergangenen, die Zeugen der Geschehnisse, entschied sich aber dann definitiv für eine dreidimensionale Malerei, die kein Abbild von bereits Existierendem wurde, sondern ein Leben an sich erhielt – eine Manifestation des Lebens an Sich wurde. Zurück in Düsseldorf etablierte er sich schnell als freier Künstler. 1980 bezog er sein Studio in der Blücherstraße, war örtlich unter dem Namen „Charly“ bekannt und schaffte es, seine bald fünfköpfige Familie allein durch Kunst zu unterhalten. Und dennoch gehört er zu den Philosophen unter den Künstlern, mit Sinn nur für das Wesentliche: Kunst, Familie, Freunde, eventuell in variabler Reihenfolge.
Dass „Rost“ nicht als „edles“ Material geschätzt war, hatte seinen eigenen Charme für Freund. Als Kontrastprogramm zum ‚Sauberen, Akzeptierten, Etablierten‘ brachte er es gern in Galerien und Wohnzimmer; dies zu einem Zeitpunkt, als rostendes Metall noch nicht unbedingt allgemein salonfähig war. Sein Interesse an Allerwelts-Materialen führte ihn auch zu Collagen mit Holz und Papier, zu Malen mit Kaffee oder auf Jute-Kaffeesäcken als Bildgrund; frühe Strukturarbeiten involvierten Autokühler oder Kühlerhauben. Die letzteren waren als Anspielung auf unsere Gesellschaft zu verstehen, wo demonstrativ auf das Äußere geachtet und das Auto einmal die Woche geputzt wird. Die Oberfläche strahlt demnach blitzsauber, unter der Haube rostet jedoch vielleicht der Motor. In Freunds Welt leuchtet die Haube in warmem Rost und darunter verbirgt sich ein glitzernder verchromter Motor.
„Ich beschäftige mich mit Strukturen, Oxydationen und Materialien. Diese Oberflächen aus Rost und zerfurchten Mauern usw. spiegeln durch ihre Verletzungen eine wechselhafte Beziehung von Mensch, Umwelt und Materie wieder. Losgelöst aus ihrer normalen Umgebung haben diese Oberflächen eine eigene Ästhetik. Sinn meiner Bilder ist aber nicht eine Form der Ästhetik zu schaffen, sondern vom Betrachter eine eigene Anstrengung zu fordern, indem er in die Oberflächen eindringt und mit Hilfe seiner Kreativität und Phantasie selbst schöpferisch tätig wird. Läßt sich der Betrachter darauf ein, wird er viele neue Bilder entdecken. Andernfalls wird er nur eine Rostoberfläche oder eine verwitterte Mauer sehen.”
„Meine Arbeit ist eine mehr meditative, kann aber genauso wesensverändernd wirken wie Agitationskunst, auch durch Meditation werden Probleme sichtbar. […] Besitzer meiner Arbeiten teilen mir immer wieder mit, dass sie jeden Tag in meinen Bildern etwas Neues sehen.“
ERGO Bild 1 – hinter dem Empfangstresen: Titel: Schwarz, Rost, Rot | 1990 | Eisen und Rost auf Leinwand und Lack auf Holz, dreiteilig | 250 x 160 x 6cm
Mit beeindruckender Präsenz laden Jürgen Freunds Werke zu Meditation oder längeren Betrachtung ein. So zum Beispiel im ERGO Gebäude Düsseldorf. Platziert am Eingang und auch von draußen sichtbar, bringen sie mit Ruhe und Tiefe neue, kontemplative Dimensionen in den Raum. Ebenso bietet Jürgen Freunds Rost/Blau in der Landeszentralbank Mainz einen Moment der Pause und Reflexion. Um Rost als Farb-Material einsetzen zu können, beschleunigte Jürgen Freund den Korrosionsprozess durch Salzsäuren – und hielt ihn dann an. In der Ausführung ist dieses Verfahren komplex, bedingt Geduld, Ausdauer und einen eigenen meditativ-spirituellen Ansatz: „Meine Arbeitsweise ist sehr intensiv und langatmig. Manche Bilder überarbeite ich immer wieder, bis es halt so ist, wie ich es mir vorstelle.“
In seinen Bildern forcierte – und revisierte – Jürgen Freund den Vergehensprozess. Beim eigenen Leben gab es Beschleunigung, aber keine Bremse oder Revision, und seine spezifische Wahl der Arbeitsweise mag zur Beschleunigung der Tatsachen gut beigetragen haben. „Die Säuren, die er benutzte, waren das reine Gift – wenn man ins Atelier kam, schlug es einem nur so entgegen“, erinnert sich seine Tochter Sarah Freund.
Jürgen Freund (1949-2007) wäre diesen Juli 75 Jahre alt geworden. Wir feiern seinen Geburtstag in Absentia und freuen uns, sein profundes Werk mit erneuter Kraft auf Dauer gewürdigt zu sehen.
■ Uscha Pohl www.upandco.com @upandco_