„Es geht darum, eine wache und kritische Einstellung zu bewahren, um nicht blind Ideologien zu reproduzieren.”
Lanzino im Gespräch mit Thomas Majevszki
Ilaria, bitte stelle Dich und Deinen Werdegang einmal kurz vor.
Ich bin eine italienische Regisseurin und lebe seit 14 Jahren im deutschsprachigen Raum. Deutschland ist meine künstlerische Heimat, wo ich den Beruf der Regisseurin und die Theaterwelt kennengelernt habe. Zurzeit lebe ich in Köln, habe jedoch viele Jahre in Düsseldorf verbracht, wo ich als Spielleiterin an der Deutschen Oper am Rhein tätig war. Dort begann ich auch mit der Inszenierung von Stücken, zuletzt „Der Kaiser von Atlantis” von Viktor Ullmann, einem Werk, das mir besonders am Herzen liegt. Seit meinem Debüt in Düsseldorf habe ich meine Karriere in vielen Theatern Europas begonnen. Nun kehre ich nach Düsseldorf zurück, um „Nabucco” zu inszenieren.
Was ist das für ein Gefühl für eine Italienerin, gerade „Nabucco“ hier zu inszenieren, und das auch noch zur Eröffnung der neuen Spielzeit?
Ich bin froh, dass ich das in Deutschland mache und nicht in Italien. In Italien wäre das mit einer unfassbaren Emotionalität verbunden, fast schon übertrieben. Dieses Werk wurde 1842 uraufgeführt und schon 1848 gab es den ersten Befreiungskrieg gegen die Österreicher. Obwohl wir wissen, dass dieses Werk für den Komponisten Giuseppe Verdi eher einen privaten Aufbruch als einen politischen bedeutete – er überwand mit dem Komponieren von „Nabucco” seine Trauer um seine toten Kinder und Ehefrau— haben die Italiener das Stück stark politisiert und die Handlung als Befreiungsakt gegen die Österreicher gedeutet. Überall schrieben sie auf den Mauern das codierte „Viva V.E.R.D.I.”, und zwar „Viva Vittorio Emanuele König von Italien” und Verdi wurde als Nationalkomponist angesehen. Seitdem hat für uns dieses Stück einen emotionalen Wert, von dem sich ein italienisches Publikum niemals trennen kann. Insbesondere der Gefangenenchor wurde während aller möglichen Krisen im Laufe der italienischen Geschichte sehnsüchtig gesungen, aber auch instrumentalisiert. Als Regisseurin hilft diese starke Deutungspraxis nicht, man muss sich davon emanzipieren.
Welche Aspekte bestimmen denn die Inszenierung? Es ist ja ein Stück mit einer langen, vielfältigen Geschichte. Was kann man dem noch hinzufügen? Welche Facette ist jetzt an der Reihe?
Das Libretto dieser Oper setzt zu stark auf eine simple Trennung zwischen Gut und Böse. Diese Polarisierung zwischen einem „guten” und einem „bösen” Volk hat dazu geführt, dass „Nabucco” im Laufe der Geschichte oft instrumentalisiert wurde, um eine Identifikation von „uns” als „den Guten” gegen „sie” als „die Bösen” herbeizuführen. Beispielsweise ließ Mussolini 1935 vor einer Rede den Gefangenenchor erklingen, um ein nationales Zugehörigkeitsgefühl zu stiften.
Ich möchte diese Dualität zwischen einem „guten” und einem „bösen” Volk bewusst aufbrechen. Für mich ist es nicht die Geschichte über die Befreiung der „guten” Hebräer von den „bösen” Babyloniern, sondern die Geschichte über die Befreiung beider Völker von dem aussichtslosen Konflikt, in den sie von ihren Anführern getrieben wurden. Die Annahme des Stückes, dass „Nabucco”, der blutrünstige König der Babylonier, seine Meinung geändert und das Volk, das er vier Akte lang gequält hat, gerettet habe, lehne ich ab. Die Befreiung erfolgt bei mir nicht durch die Nachsicht eines Tyrannen, sondern durch den Druck von unten.
Ich möchte mehr Ambivalenz in der Darstellung des Chores schaffen. Es hat mich immer gestört, dass der Chor der Babylonier (die vermeintlichen „Feinde”) nur zu Beginn des dritten Aktes für zwei Minuten erscheint und dann nie wieder. Wer sind diese Menschen? Was geschieht auf der anderen Seite? Warum spielen sie keine Rolle? Ich wollte nicht, dass die Babylonier lediglich als böse Machthaber dargestellt werden. Es gibt auch ein Volk unter diesen Machthabern!
In meiner Inszenierung sind daher ab dem dritten Akt beide Völker, Babylonier und Hebräer, immer gemeinsam auf der Bühne zu sehen, getrennt durch eine Barrikade, die die Hebräer im ersten Akt errichtet haben, um sich gegen die Angreifer abzugrenzen. Ich verschiebe die Perspektive und bringe die Trennung von der Randzone der Bühne ins Zentrum, damit der „Feind” sichtbar wird – und zwar durchgehend bis zum Ende. Man sieht, dass beide Völker unter den Entscheidungen ihrer Politiker:innen leiden und kriegsmüde geworden sind, weil sie ihre Häuser sowie Freunde und Verwandten verloren haben. Der „Gefangenenchor” soll daher das Leid beider Völker ausdrücken. Aus diesem Elend finden sie schließlich gemeinsam einen Ausweg.
Besonders heutzutage ist das auch politisch ein spannender Aspekt, ein Stück wie „Nabucco” jenseits von Gut und Böse zu betrachten. Spielt das eine Rolle?
In den letzten Jahren hat sich die Gesellschaft weltweit stark polarisiert. Diskussionen sind schwieriger geworden, und wir neigen zunehmend dazu, Menschen in „Meinungslager” einzuordnen. Komplexität ist in Verruf geraten. Früher mied ich abweichende Meinungen, aus Angst, meine Identität zu verlieren. Doch dann beschloss ich: Nein, ich will keine Angst haben. Solange ich mich nicht nur auf eine Perspektive beschränke, kann nichts Schlimmes passieren.
Heute gehe ich bewusst anders vor als früher. Sobald ich von etwas überzeugt bin, stelle ich meine Überzeugungen auf die Probe. Ich lese verschiedene Autor:innen mit radikal unterschiedlichen Positionen zu jedem Thema und beleuchte die andere Seite direkt. Das Ergebnis: Oft bestärken mich andere Meinungen in meiner ursprünglichen Überzeugung. Manchmal moderiere ich meine Ansichten und werde diskussionsfähiger. Mein Bücherregal sieht dadurch zwar verwirrend aus, aber mein Denken wird differenzierter und vielschichtiger.
Dieser Ansatz ist anstrengend, weil ich Widersprüche aushalten muss. Doch so anstrengend und unvollkommen es auch sein mag, ist es für mich der einzige Weg, Feindbilder zu vermeiden. Ich habe entschieden, dass Widersprüche wertvoll sind. Wir müssen sie aushalten, darüber reden und sie enttabuisieren.
Mit dieser Haltung gehe ich nicht nur in die Welt, sondern auch in meine Inszenierung von „Nabucco”.
Das ist ein sehr schönes Prinzip und besonders in der heutigen Zeit wichtig. Ein Schwarz-Weiß-Denken, das die Menschen dazu bringt, Feindbilder zu entwickeln, reduziert komplexe Situationen auf Gut und Böse und blendet die Menschlichkeit der jeweils anderen Seite aus. Es ist spannend zu sehen, wie unterschiedliche Sichtweisen betrachtet werden können, wie zum Beispiel „Nabucco” aus einer anderen Perspektive zu sehen. Welche Mittel setzt Du ein und wie wirst Du das künstlerisch Formale nutzen?
Das ist eine sehr gute Frage. Oft werde ich gefragt, was meine Ziele sind denn, wenn man meine Inszenierungen sieht, hängt es stark davon ab, welches Stück ich auf die Bühne bringe. Dabei habe ich sehr unterschiedliche handwerkliche Mittel eingesetzt. Als Beispiel habe ich „Lucia di Lammermoor“ inszeniert, wo ich entschieden habe, Lucia als Mann darzustellen und die Geschichte eines schwulen Coming-outs zu erzählen. Das wurde von einer Sopranistin gesungen, aber als Hosenrolle dargestellt.
Für dieses Konzept habe ich mich für einen sehr realistischen Stil entschieden, um die Figur von Lucia den Menschen näher zu bringen. Das Beste, was mir passiert ist, war, als jemand mir sagte, dass seine Tochter nach meiner Inszenierung ihr Coming-out gemacht hat. Ein anderes Beispiel ist „Jawnuta” in Posen wofür wir einen internationalen Opernpreis gewonnen haben. Es ist eine Geschichte über den Holocaust der Roma. Hier wollte ich keinen durchchoreographierten Stil verwenden, da ich die Geschichte nahbar und berührend erzählen wollte. Bei „Der Kaiser von Atlantis“ habe ich einen grafischen Ansatz gewählt, da die allegorische Darstellung dem Thema des Konzentrationslagers besser entsprach.
Für jedes Stück verwende ich abhängig vom Inhalt einen anderen Stil. Ich bin im Physical Theater ausgebildet, was viel körperbetonte Arbeit beinhaltet, aber ich bediene mich auch gerne des psychologisch realistischen Theaters, wenn es das Stück verlangt.
Bei „Nabucco“ entschied ich mich für eine realistische Personenführung, um das Menschliche hinter der Geschichte zu entdecken – sowohl die verstrickte, verdorbene Familie mit Neid und Eifersucht zwischen den Schwestern als auch die beiden Völker, die um ihr Überleben kämpfen. Die visuelle Darstellung beinhaltete eine umgefallene Fassade eines Gebäudes mit einem Spiegel darauf, was die Perspektive aufbricht und eine surrealistische Note hinzufügt. Ohne die Spiegel wäre die Hausfassade nicht zu sehen, aber durch die Spiegelung ergibt sich eine Vervielfachung, auch in Bezug auf die Menschen auf der Bühne. Wir haben 90, sie schauen dabei wie 180 aus. Man erhält ein großes Bild von Menschen, die aus ihren Häusern fliehen. Der Verlust des Zuhauses ist ein zentrales Thema im Stück.
Wie wird es musikalisch betrachtet? Das ist ja auch immer ein zentraler Aspekt.
Das solltest Du Vitali Alekseenok fragen, der die musikalische Leitung des Stückes hat. Die Zusammenarbeit mit ihm war bis jetzt großartig. Er kennt das Stück inside-out und es ist ein Genuss, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Soweit ich es beobachten konnte, hat er eine sehr klare Vorstellung von seinen Tempi und Farben, doch er ist auch offen für das Gespräch mit mir über viele Kleinigkeiten, die für meine Szene besser wären.
Was kannst Du zur Besetzung sagen?
Die Besetzung ist grandios. Wir haben Alex Zelenkov als „Nabucco”, eigentlich ein jüngerer Sänger, der aber in der Darstellung von älteren Rollen auf der Bühne erfahren ist. Grandiose Stimme und tolle Präsenz. Als Abigaille haben wir Svetlana Kasyan, einen Gast. Sie ist auch jung, frisch, super ambitioniert und hat schon eine große Karriere hinter sich, insbesondere in Italien. Als ihre Schwester Fenena haben wir Ensemble-Mitglied Kimberly Böttger-Soller, die auch mein „Trommler” im „Kaiser von Atlantis” gewesen ist. Eine grandiose Darstellerin mit einem warmen Mezzo. Als Zaccaria arbeite ich zum ersten Mal mit Liang Li, einem tollen Kollegen mit einer super Stimme. Als Ismaele haben wir Eduardo Aladrén, den ich auch zum ersten Mal inszeniere. Ein super begabter Tenor. Mit dem wunderbaren Luke Stoker als Hohepriester habe ich auch schon gearbeitet, er war „Der Tod” im „Kaiser von Atlantis”. Er kennt mich schon so gut, dass er sofort jede Korrektur versteht und unmittelbar umsetzt. Also: Ich könnte keine glücklichere Regisseurin sein.
Liebe Ilaria, vielen Dank für das Gespräch. Ich darf sagen, dass ich schon sehr gespannt auf „Nabucco” in Deiner Inszenierung bin.
Liebe Ilaria, vielen Dank für das Gespräch. Ich darf sagen, dass ich schon sehr gespannt auf „Nabucco” in Deiner Inszenierung bin.