„Bei der Frauenförderung ist das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht“
Interview mit Christina Sontheim-Leven, Vorständin der CEWE Stiftung & Co. KGaA
von Dr. Susan Tuchel
Vor sieben Jahren beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, um den Anteil von Frauen in den Führungsgremien von Wirtschaft und Verwaltung zu erhöhen. Das wurde als Meilenstein der Gleichberechtigung gesehen. Was ist seitdem passiert?
Auf jeden Fall zu wenig. Laut Statistischem Bundesamt waren in Deutschland im Jahr 2020 nur rund 28 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Anteil sogar um zwei Prozent gesunken. Wir liegen in Deutschland im Vergleich zur EU im unteren Drittel. In Lettland ist mit 47 Prozent fast die Hälfte aller Führungspositionen von Frauen besetzt. Bei den 160 Unternehmen der Dax-Familie lag der Frauentanteil zum Stichtag 1. Januar 2022 bei 13,4 Prozent. CEWE, wo mit 58 Prozent sogar mehr Frauen als Männer im Aufsichtsrat sitzen, ist da zum Glück eine Ausnahme und ein gutes Beispiel. Meiner Meinung nach hätten die Unternehmen früher eigeninitiativ handeln können, um die gesetzliche Regulierung überflüssig zu machen, die seit August 2021 eine Mindestbeteiligung von Frauen für Vorstände mit mehr als drei Mitgliedern gesetzlich vorschreibt.
Nur, weil es gerechter ist oder gibt es auch noch weitere Gründe für Diversität in Unternehmen?
Abgesehen von der Gleichberechtigung gibt es viele gute Gründe für Unternehmen, Frauen in Führungspositionen zu bringen. Unternehmerisch gesprochen: Vielfältig besetzte Führungsmannschaften sind nachweislich erfolgreicher. Eine Studie des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat herausgefunden, dass Vorständinnen weniger fusionieren, seltener neues Anlagevermögen erwerben und ineffiziente Anlagen früher abschreiben. Das wird vom Markt positiv aufgenommen. Die Unternehmensberatung McKinsey hat in einer Studie aus dem Jahr 2020 prognostiziert, dass Unternehmen mit diversen Teams und einem Frauenanteil von über 30 Prozent auch finanziell profitieren.
Seit Januar sind Sie Personalvorständin einer Multigruppe mit Standorten in 21 Ländern in Europa und fast 4.000 Mitarbeitern. Haben Sie sich im Vorfeld auf diese Position vorbereitet oder war es der berühmte Sprung ins kalte Wasser?
Bei CEWE ist es üblich, dass Führungskräfte in den ersten Monaten so viele Standorte wie möglich besuchen, in die Produktion eintauchen und die Teams vor Ort kennen lernen. Ich war mit dem Vertrieb unterwegs, habe dem Customer Service zugehört und habe drei Wochen lang an fast jeder Maschine gearbeitet – in Jeans und Pullover. Ich kenne jetzt jeden Produktionsschritt, habe unser CEWE Fotobuch, Kalender und Adventskalender mitproduziert. Am härtesten war es, am Ende der Produktionsstrecke die Kalender und Fotobücher für den Foto-Einzelhandel oder den Endkunden zu verpacken. Ich hatte zwar einen ordentlichen Muskelkater, aber es war sehr befriedigend, am Ende des Tages auf den Paletten zu sehen, was man so weggearbeitet hat. Ich habe in dieser Zeit sehr viel mit den Mitarbeitenden gesprochen. Viele sind schon 20 oder 30 Jahre bei CEWE und haben die Transformation ins digitale Zeitalter mitgemacht. Das hat mich auch an dem Unternehmen gereizt: CEWE hat bereits 1994 den Wandel zur digitalen Fotografie vollzogen. Der CEWE Photoindex, diese Karte, auf der alle Bilder eines Films im Kleinformat zu sehen sind, war das erste digitale Massenprodukt überhaupt. Heute ist CEWE nicht nur Produzent, sondern auch Digitalkonzern mit einem breiten Software-Angebot – von der klassischen Desktop-Lösung bis zur Mobile App. Und an vielen Entwicklungen sind die Mitarbeitenden beteiligt. Meine Aufgabe als Personalvorständin sehe ich unter anderem darin, zu verstehen, was die Mitarbeitenden brauchen, um sich bei uns gut zu entwickeln und gerne hier zu arbeiten. Ich werde die Organisationsentwicklung für alle Marken der Gruppe übernehmen, diese Aufgabe gab es vorher in dieser Ausprägung noch nicht. Deswegen bin ich seit einigen Wochen unterwegs, um alle Produktions- und Vertriebsstandorte der CEWE-Gruppe zu besuchen.
Noch einmal zurück zur Frauenfrage: Wie stehen Sie zur Genderdebatte?
Für mich ist die Basisarbeit entscheidend. Meiner Meinung nach ist bei der Frauenförderung das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Wieviel Flexibilität und Diversität wird in Unternehmen wirklich jenseits der Hochglanz-Marketing-Präsentationen gelebt? Darüber brauchen wir dringender eine gesellschaftliche Debatte als über Gendersternchen. Und wir müssen auch über die negativen Auswirkungen reden, die die Pandemie für Frauen hatte, als Schulen und KITAs dichtmachten. In vielen Familien sind die Frauen wieder ganz selbstverständlich zurück in die zweite Reihe getreten. Es wurden auf einmal überholte Familienmodelle wiederbelebt. Solche Entwicklungen halte ich für bedenklich.
Was reizt Sie an einer Top-Position in der Wirtschaft?
Ich habe Freude an meiner beruflichen Position. Allerdings ist es nicht so, dass ich am Anfang meiner Karriere einen ausgeklügelten Plan in der Tasche hatte. Aber ich habe immer sehr gerne und ohne zu zögern die Gelegenheiten ergriffen, die sich mir geboten haben. Ich hatte immer große Lust, Neues zu lernen, Branchen kennenzulernen und mich in andere Gebiete einzuarbeiten.
Haben Sie Vorbilder?
Meine Mutter, weil sie trotz ihres Berufes so viele Kinder großgezogen hat und meine Großmutter. Sie hatte einen Bauernhof in Hessen und hat den Laden geschmissen. Sie hat wie eine Unternehmerin agiert. Heute würde man sagen, dass sie immer darauf bedacht war, ihr Produktportfolio zu erweitern, wenn sie darüber nachdachte, was noch auf dem Marktstand angeboten werden kann (lacht). In meinem Beruf habe ich weniger Vorbilder. Wen ich sehr bewundert habe, ist Ruth Bader Ginsburg, die US-amerikanische Richterin und Beisitzende Richterin am Supreme Court der Vereinigten Staaten.
Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Agil und teamorientiert. Auch einen Vorstand sehe ich als Team. Als Führungskraft muss ich auch starke Teams zulassen können und die Größe haben, Menschen einzustellen, die klüger sind als ich. Ich habe alles richtig gemacht, wenn ich so führe, dass ich beruhigt in den Urlaub fahren kann mit dem Wissen, dass auch ohne mich alles läuft. Verantwortung zu delegieren und Mitarbeiter in die Eigenverantwortung zu entlassen, das hört sich theoretisch ganz einfach an, in der Praxis scheitern aber viele Führungskräfte daran.
Verraten Sie etwas aus Ihrem Privatleben?
Ich bin verheiratet mit einem Mönchengladbacher Elektrotechnikermeister, der aus einer Unternehmerfamilie kommt. Unsere Kinder sind neun und drei Jahre alt. Das ist nicht immer ganz einfach zu managen. Aber ich bin begeistert über das Selbstbewusstsein meiner dreijährigen Tochter und die Selbstständigkeit meines siebenjährigen Sohnes. Unterstützung bekommen wir z. B. von zwei Babysittern. Natürlich genieße ich die Zeit mit meinen Kindern sehr. Wenn ich nach Hause komme, bin ich ganz für sie da und aus der Zeit, die ich mit ihnen verbringe, bekomme ich viel Schwung und Energie für meinen Job. Ich schlafe sehr gerne, bin kein Morning-Typ, dafür sitze ich gerne und auch konzentriert bis nachts am PC. Unter meinen dienstlichen Mails steht im Abspann, dass sich keiner diesen Arbeitszeiten anzupassen hat (lacht). Ich singe in einem Gospelchor in Düsseldorf und bin in Düsseldorf viel zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs.
Kurzvita
Christina Sontheim-Leven (Jahrgang 1977) wurde in Hessen geboren, wuchs in Heidelberg und Bremen auf. Sie studierte Rechtwissenschaften an der Universität des Saarlandes. Ihren Master in Rechtsinformatik erwarb sie an der Universitas Osloensis und an der Leibniz Universität Hannover, stieg dann als Legal Counsel bei der Metro AG ein. 2008 wechselte sie als Projektleiterin zu Peek & Cloppenburg. Von 2010 bis 2016 leitete sie die Rechtsabteilung des Bekleidungskonzerns PVH in Düsseldorf, zu dem Tommy Hilfiger und Calvin Klein gehören. Danach arbeitete die Juristin in der Logistikbranche, wurde Chief Legal and Compliance Officer bei Postcon, 2020 CEO bei Spiekermann Consulting Engineers. Sontheim-Leven engagiert sich als ehrenamtliche Richterin am Landesarbeitsgericht Düsseldorf, ist Beirätin von Legaltegrity und Mentorin der Initiative „Women into Leadership“. Im Januar hat sie ihre Stelle als Vorständin beim Oldenburger Familienunternehmen und europäischen Marktführer im Fotofinshing CEWE angetreten. Christina Sontheim-Leven lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Düsseldorf.
© Fotos: Alexander Vejnovic
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