„Mit jedem Stück versuche ich eine eigene Welt zu erschaffen“
Interview mit Demis Volpi, Ballettdirektor und Chefchoreograph, Ballett am Rhein
von Dr. Susan Tuchel
Ein Junge, der sich mit vier Jahren nichts sehnlicher wünscht, als zu tanzen und eine Ballettschule zu besuchen, das kommt nicht alle Tage vor. Wie haben Sie das in Ihrer Familie in Argentinien durchgesetzt?
Ich kann sehr hartnäckig sein. Seit ich drei Jahre alt war, habe ich wohl täglich meinen Wunsch vorgebracht. Mein Vater ist Weinimporteur, hatte mit Tanz und Ballett wenig im Sinn, aber irgendwann haben meine Eltern nachgegeben. Ich war der einzige Junge in der Ballettschule, aber das hat mir nichts ausgemacht. Wenn ich mich heute an meine Kindheit erinnere, fallen mir die vielen Zaubershows ein, die ich zusammen mit meinen beiden Geschwistern einstudiert habe. Heute ist mir klar, dass das der Beginn meiner Leidenschaft für die Choreographie war.
Mit 14 Jahren wurden Sie an der Canada‘s National Ballet School in Toronto angenommen. Das ist recht jung, um Familie und Heimat zu verlassen. Fiel Ihnen dieser Schritt schwer?
Nein, überhaupt nicht. Meine Familie ist zu dieser Zeit nach Spanien ausgewandert und für mich gab es nur wenige Möglichkeiten weltweit, eine renommierte Ballettakademie zu besuchen. Und Toronto ist eine der bekanntesten. Wir haben dort natürlich nicht nur getanzt, sondern mussten auch unser normales schulisches Lernpensum absolvieren. Deutsch hatte ich übrigens schon in Argentinien gelernt. Das hat mir dann auch sehr geholfen, als ich mich 2002 bei der Stuttgarter Cranko Schule bewarb. Ich war fasziniert von den Handlungsballetten und den Figuren John Crankos, sie sind so glaubwürdig. Mit 18 Jahren war ich dann staatlich geprüfter Klassischer Tänzer. Ich wurde als Eleve beim Stuttgarter Ballett übernommen und bekam dann eine Anstellung im Corps de Ballet. Die Compagnie war sehr hierarchisch aufgebaut. Ich hätte also lange warten müssen, bis ich oben auf der Karriereleiter gewesen wäre. Und Warten ist nicht meine Stärke. Aber ich hatte Glück: In Stuttgart gibt es die Jungen Choreographen-Abende der Noverre-Gesellschaft. Hier haben Kreative die Chance, sich auszuprobieren. Mit 20 Jahren habe ich mein erstes Stück choreographiert und obwohl ich mehrmals versuchte abzuspringen, wurde das Stück dann am Ende doch aufgeführt. ein paar Jahre später beantragte und erhielt ich die deutsche Staatsangehörigkeit. Diesen Schritt habe ich mir sehr genau überlegt, denn mit der Staatsangehörigkeit bekennt man sich auch zu dem Erbe und der Geschichte eines Landes. Aber Deutschland war meine Heimat geworden.
Hörten Sie auf zu tanzen oder geht beides zusammen?
Für manche Menschen geht beides zusammen, aber mir wurde mit 24 Jahren klar, dass ich meine Stücke nie erleben würde, wenn ich sie nicht selbst choreographiere und habe dann entschieden mich voll darauf zu konzentrieren.
Sie wagten sich an Uraufführungen, z.B. für das American Ballet Theatre und das Ballet de Santiago in Chile. Und dann Ihr erstes abendfüllendes Ballett „Krabat“, das in Stuttgart ein Kassenschlager wurde. Wurde es „Krabat“, weil Sie als Kind so gerne gezaubert haben?
Ich hatte zuvor den „Karneval der Tiere“ choreographiert und gemerkt, dass man auf diese Weise Kinder an die Musik und den Tanz heranführen kann. Ich habe dann einen Stoff gesucht, der Jung und Alt fasziniert und ein bisschen habe ich bei „Krabat“ auch meine Leidenschaft für die Zauberei wiederentdeckt. Die Auseinandersetzung mit der Musik und Handlung ist bei jedem Stück sehr langwierig. Für die Choreographie von „Krabat“ habe ich fast drei Jahre gebraucht, selbst für kleinere Stücke brauche ich zum Teil über ein Jahr. Ich lebe dann ganz in der Idee, höre immer wieder die Musik, setze mich mit der Aufführungsgeschichte und dem Werk auseinander. Und dann kommt der Punkt, an dem ich mich von allem befreie, indem ich mit meiner Choreographie eine Sprache für das Stück entwickle und versuche, eine eigene Welt zu erschaffen.
Wie habe ich mir das vorzustellen? Schreiben Sie die Choreographie in der Tanzschrift, der Choreologie, wie Komponisten in der Notenschrift?
Nein, das funktioniert heute eher mit Videos. Der Tanz hat sich weiterentwickelt, die Abläufe sind viel komplizierter geworden. Das lässt sich nicht mit den standardisierten Figuren des klassischen Tanzes vergleichen. Tanz ist eine Disziplin, die von Mensch zu Mensch weitergegeben wird. Die Arbeit als solche ist kaum vermittelbar. Sie funktioniert nur dann, wenn jemand weiß, was damit gemeint ist, wenn er die Intention einer Bewegung spürt und umsetzen kann. Wenn ich mit meinen Vorarbeiten fertig bin, beginnt die Arbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern. Die Choreographie entsteht zusammen mit ihnen, ganz spontan, dafür gibt es keine Formel. Ich gehe jedes Mal sozusagen nackt in eine Choreographie hinein.
Mit dem „Tod in Venedig“ Benjamin Brittens, einer Adaption der Novelle Thomas Manns, wechselten Sie das Genre, verknüpften Oper und Ballett. Das war neu.
Das war 2017. Die Idee stammte von der Stuttgarter Oper, die mit dem Ballett kooperierte. Mich hat unter anderem die fast filmische Geschwindigkeit von Brittens Oper fasziniert und wie man die Sparten Oper, Tanz und Schauspiel miteinander verschwimmen lassen kann. Seitdem habe ich einige Opern inszeniert. 2019 den „Don Giovanni“ in Weimar und am Staatstheater Saarbrücken „Médée / Medea Senecae“. Das war in der Zeit von 2017 bis 2020, in der ich als freischaffender Opernregisseur und Choreograph arbeitete.
Und dann kamen Sie wie nach Düsseldorf?
Ich war gerade dabei, in Berlin meine Bücherkisten auszupacken, als ich einen Anruf mit einer 0211-er Vorwahl bekam. Das war dann die Anfrage, ob ich Interesse hätte die Position als Ballettdirektor und Chefchoreograph das Ballett am Rhein zu übernehmen. Anschließend kam ein intensiver und inspirierender gegenseitiger Kennenlernprozess mit dem Intendanten Christoph Meyer und dem Kulturdezernenten der Stadt Düsseldorf, Hans-Georg Lohe, die mich dann dem Aufsichtsrat vorgeschlagen haben. Ich kannte Düsseldorf schon ein bisschen, weil ich im Jahr 2013 fürs K20 und K21 ein Stück mit Mobiles aus Menschen inszeniert hatte. Die Nachfolge von Martin Schläpfer anzutreten, hat mich aus künstlerischen Gründen gereizt. Im Februar 2020 bin ich nach Düsseldorf gezogen.
Aber trotzdem blieben nur 18 Tänzerinnen und Tänzer, 27 wurden neu engagiert. Waren die Compagniemitglieder aus der Schläpfer-Ära Ihnen zu alt?
Nein, mit dem Alter hatte das nichts zu tun, aber man braucht Vielfalt in einer Compagnie. Wir arbeiten mit den alten und neuen Compagnie-Mitgliedern in den flachen Hierarchien weiter, da hat sich nichts geändert. Natürlich bringt man von außen auch immer neue Ideen mit. Aber dann kam Corona. Die Arbeit im Hause ging weiter, wir waren produktiv in der Krise, haben Chancen genutzt und uns gefragt, was wir aus der Situation in die Zukunft mitnehmen können. Ich habe unter anderem ein abendfüllendes Stück erarbeitet. Meine Online-Premiere hier war das Stück „A simple piece“, das kurz vor dem zweiten Lockdown im Oktober 2020 seine Premiere auf der Bühne feierte. Während des Lockdowns habe ich das Stück mit Ralph Goertz, dem Düsseldorfer Filmemacher, Kurator und Leiter des Instituts für Kunstdokumentation, verfilmt. Unter www.operavision.eu kann man es noch bis zum 5. Juni kostenlos online sehen.
Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Ich bin meist gegen 6 Uhr wach, frühstücke, absolviere meine Dehnübungen, räume auf und bereite mich auf die Proben und Gespräche vor. Um 9 Uhr geht es im Balletthaus oder in der Oper los und abends arbeite ich alles ab, was auf meinem Schreibtisch gelandet ist.
Was mögen Sie an Ihrer neuen Heimat und wo gehen Sie hin, wenn die Gastronomie wieder öffnet?
Ich wohne in der Carlstadt und freue mich wieder darauf, in Laura‘s Deli essen zu können. Aktuell gehe ich viel auf dem Carlsplatz einkaufen, ich mag die Marktatmosphäre dort. Und ich liebe den Rhein und dass man an dem Ufer so viel Himmel zu bewundern hat.
Kurzvita
Demis Volpi wurde 1985 in Argentinien geboren. Im Alter von vier Jahren besuchte er eine Ballettschule in Buenos Aires, bewarb sich 10 Jahre später bei der Canada‘s National Ballet School in Toronto. Von 2002 bis 2004 besuchte er die renommierte John Cranko Schule in Stuttgart. Mit 18 Jahren tanzte er als Eleve und anschließend im Corps de Ballet des Stuttgarter Balletts. Drei Jahre später choreographierte er sein erstes Stück. Seitdem hat Volpi mehr als 40 Choreographien auf Bühnen in der ganzen Welt gebracht. er schuf Arbeiten u.a. für das American Ballet Theatre, das Ballet de Santiago de Chile, das Ballet Nacional del Sodre in Uruguay, das Lettische Nationalballett, das Ballett Dortmund, die Compañia Nacional de Danza de México und das Ballet Vlaanderen. 2011 wurde Volpi mit dem erik Bruhn Preis, 2012 mit dem Chilenischen Preis des Kunst-Kritikerkreises und 2014 mit dem Deutschen Tanzpreis Zukunft ausgezeichnet. Für sein abendfüllendes Ballett „Salome“ in Stuttgart wurde er 2017 für den Prix Benois de la Danse nominiert und nach seiner erfolgreichen Premiere von „Tod in Venedig“ in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Opernwelt zum Nachwuchskünstler des Jahres 2017 ernannt. 2019 wurden seine Arbeiten und Leistungen als Choreograph der letzten zehn Jahre bei der Konex Award Preisverleihung in Buenos Aires mit dem Merit Diploma der Stiftung ausgezeichnet. Mit Beginn der Spielzeit 2020/21 trat Demis Volpi das Amt des Ballettdirektors und Chefchoreografen am Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg an.
© Fotos: Alexander Vejnovic
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