19. Februar 2019In 2019/1

„In jedem Tanz steckt eine Geschichte unseres Landes, eine Widmung an eine Situation“

Interview mit Nicole Nau, Tänzerin „Tango Argentino“, Malerin, Autorin


Von Barbara Schmitz

Du warst eine Düsseldorfer Grafik-Designerin und hast für renommierte Agenturen gearbeitet. Nun bist du seit vielen Jahren eine der weltweit bekanntesten und einflussreichsten Interpreten des populären Tanzes. Welches innere Feuer hat dich dazu befähigt? 

Erstmals getanzt habe ich mit sechs Jahren. Ich nahm Papas Schallplatten (was streng verboten war) und legte sie auf, bewegte mich zu diesen Klängen. Später habe ich zu Malen begonnen. Sehr gerne, auch sehr gut. Doch die Sorge, dass man sich als Künstler nicht über Wasser halten könne, brachte mich vom Malen ab. Diese Bohème war eine Welt, in der ich nicht zu Hause war, Lebenskünstler. Ich war sehr straight, sehr ordentlich, sehr klar, mit hohen Idealen und Prinzipien. Deshalb entschloss ich mich, Grafik zu studieren, Kunstgeschichte, – aber genau diese Wahl machte mein freies Malen kaputt. Der Kunde wurde wichtiger als das Werk. Ich merkte, dass etwas in mir explodierte, raus musste. Und da war es wieder, das Tanzen, der Tanz, das Frau sein, der Paartanz. Hier nun konnte ich mein eigenes Werk werden. Ich war sehr streng mit mir. Denn so wie ich Farben sehen kann, bevor sie entstehen, kann ich sie fühlen, riechen, ja anfassen. Ich kann im Himmel sehen, aus welchen Farben er gemischt ist; kann mit einem Stift alle Lichter und Schatten schaffen. So konnte ich nun Bewegung sehen, bevor ich sie tanzte. Das war ein sehr schmerzhafter Prozess. So sehr ich den Stift beherrsche, so wenig beherrschte ich anfangs das Medium Tanz. Es ist also nicht das freie Heraustanzen (Ekstase, Bewegung, Fühlen) sondern der gestalterische Moment des Erschaffens, der Kreation. Mit jedem Klang, jeder Bühne, in jeder Bewegung werden Bilder in mir wach, die ich mit Bewegung malen möchte. Mit meinen Büchern war es übrigens genauso. Ich wollte mir nicht etwas von der Seele schreiben, sondern für andere aufschreiben, was mich gerettet hat. Es hat alles Sinn, Ziel, eine Nachricht! In jedem Tanz steckt eine Geschichte von unserem Land, eine Widmung an eine Situation. Auch wenn wir keine Geschichten erzählen, so werden sie dennoch transportiert. Geschichten, die keine Worte brauchen.

Du hast dich mit unglaublicher Akribie in eine Spitzenposition getanzt. Woher nimmst du Stärke und Disziplin?

Ehrlich gesagt, kann ich das gar nicht beantworten. Es ist einfach da, ein Muss, ein inneres Treiben. Der Körper, die Musik, der Tanz, die Kommunikation im Paar, das ist ein absolut intensives Erleben. Ich spüre sofort, ob es stimmt oder nicht stimmt. Ob die Musik in uns getanzt ist, und ich mich wahrhaftig in der Musik bewege – oder die Musik größer bleibt. Im Tanz wird soviel geblendet, wie Klunker, die an dicken Ketten am Hals hängen. Ein Körper muss wie ein Instrument gestimmt sein. Wenn man dann keine Disziplin hat, kommt man auch nicht weit. Vielleicht wird man berühmt, aber im Publikum wahrhaftig etwas bewegen – außer „Ohs“ und „Ahs“ – das kann man dann eben nicht. Alle Disziplin würde ohne Ziel bleiben, wenn in einem nicht diese Ursprungsgabe des Künstlers stecken würde. Alles was ich anfasse wird zu Kunst. Ob es kochen ist, ein Buch schreiben, designen. Ich habe den Tanz gewählt, um diese in mir lauernde Kunst sichtbar machen zu können und Bücher geschrieben, ich male, designe unsere Kleider – und erzähle Geschichten.

Ich bewundere deine vielseitigen Talente: Grafikerin, Tänzerin, Kostümbildnerin, Schriftstellerin, Moderatorin, Schauspielerin, Musikerin, Marketing- und PR-Managerin. Habe ich etwas vergessen?

Laut meiner Schüler bin ich eine begnadete Lehrerin. Dabei unterrichte ich gar nicht, sondern bin und bleibe eine Künstlerin, die ihr Metier vermittelt. Aber das ist wahrscheinlich schon der Knackpunkt: etwas wahrhaftig zu beherrschen. So kann man Konzepte weitergeben inner-halb derer andere sich frei entfalten können. Tanz ist Bewegung in Zeit und Raum. Organisch, lebendig. Da darf man nicht mit Bildern wie Achsen kommen, die statisch stehen. Die Logik selber verbietet es. Ich nenne das Schreibtischtanz. Und ja, eine andere Fähigkeit, die ich habe ist, mich in andere zu versetzen. Ich kann Körper und Bewegung imitieren und so spüren, was der andere wahrnimmt. Das hilft ungemein, um Bewegungsfehler aufzuspüren. Dinge, die man scheinbar nicht sieht, die aber den sehr großen Unterschied ausmachen. Streng, eine Bewegung kann streng aussehen, aber darf sich niemals streng anfühlen, oder lasch aussehen, darf sich aber niemals lasch anfühlen. Das nennt man Interpretation. Dinge, die ich angehe, mache ich einfach gut. Es ist so, dass der liebe Gott mir diese Fähigkeit zum Tausendsassa mitgegeben hat. Das hat aber mit Inspiration zu tun, mit Vorstellung, mit den Sinnen. Einen Sinn für Dinge haben, in Sachen und Angelegenheiten Sinn zu finden und zu sehen. Es gab nur einen Job in meinem Leben, den ich kaum aushielt: ein Ferienjob. Ich musste Fotokopien machen und ordnen. Sechs Wochen lang. Ich legte sie rückwärts, ungerade, gerade, von hinten nach vorne, einfach um meinen Geist bewegt zu lassen. Da merkte ich das erste Mal, dass mein innerer Antrieb die Kreativität ist und mein innerer Tod die Routine, das Nichtdenken, Nichtfühlen.

Du bist eine starke Frau. Wie kommst du mit der männlich geprägten Gesellschaft in Argentinien klar?

Ich bin eine sehr weibliche Frau. Ich liebe klassische Rollen und denke, dass die Frau besonders stark ist, wenn sie Frau bleibt. Da hat sie etwas, was der Mann nie haben kann und ist reich in ihrem Geben. So wie er, wenn er Mann bleibt, reich in seinem Geben bleiben darf. Frau sein hat nichts mit Kleinmädchen-Hysterie zu tun. Stark sein hat nichts mit Macho zu tun. Gerade einen Mann, der sensibel ist und Position bezieht, erlebe ich als männlich. Ehrlich gesagt, gehen mir diese affektierten Rollenbilder ziemlich auf den Wecker. Sie nehmen uns die Chance, einfach zu sein, wie wir sind. Und so sehr Frauen Männer aus ihrem Leben „entfernen“ wollen, mit jedem Kind tragen sie Teile von „ihm“ in sich. Das sind klare Rollen, warum sollten wir versuchen „gleich“ zu sein? Mensch sein! Aber daran hapert es ja nun leider weltweit. Ethik. Moral. Erziehung.

Wenn du mit deinem Mann Luis Pereyra tanzt, dann fühlt man die Magie und Verbundenheit zwischen euch. Und die Freude miteinander. Wie schafft ihr es, diese Authentizität immer wieder aufs Neue sichtbar zu machen.

Unsere Beziehung ist echt. Jeden Tag liebe ich diesen Mann ein Stück mehr und tiefer. Jeden Morgen, wenn ich erwache, denke ich mir, dass es ein Geschenk Gottes ist, diesen Mann an meiner Seite zu haben. Ich weiß, dass es Luis genau so geht. Nun sind wir beide sehr straight in unseren Rollen, in unserem Frau- und Mann-sein. Da gibt es Tabus, Grenzen, über die der andere niemals gehen würde, Respekt, Achtung. Wenn zwei Menschen aus so unterschiedlichen Positionen aufeinandertreffen, dann knistert es gewaltig. Er hat das, was ich nicht habe, und ich das, was ihm fehlt. Wenn wir zusammen tanzen, dann sind wir erst ein Ganzes.

Manchmal hat man den Eindruck, dass Luis dich bei euren Choreographien durchaus noch ein wenig verblüffen kann?

Oh ja. Dieser Künstler Luis hat ein Wissen und Tiefen, die mich manchmal sogar erschrecken. Erschrecken, weil ich dann, wenn er ein neues Thema aufmacht, erst bemerke, dass er in einer Kulturwelt lebt, die enorm ist, riesig. Wenn es für mich ist wie Honigwaben, in die ich schlüpfe und wieder heraus und denke, ich habe es jetzt verstanden, so besitzt Luis das Geheimnis aller Bienen. Er muss sehr einsam sein. In den 20 Jahren unseres Zusammenlebens und auch in den anderen 20 Jahren, die ich ihn vorher bereits als Künstler kannte – ich habe nie erlebt, dass irgendwer in unserem Genre jemals seine Tiefe erreicht hat. Er erinnert mich an Gades. Dieser Antonio Gades war ein hervorragender klassischer Tänzer – was ja kaum einer weiß – der sich aber entschieden hat, für die eigene spanische Kultur zu tanzen. Und damit degradiert war. Kein richtiger Gitano, denn sein Können war zu „perfekt“, zu gut. Er war einfach der Beste, aber einsam an der Spitze, die sein Volk ihm ja nicht lassen wollte.

Wie balancierst du dich aus? Das Leben in Argentinien scheint mir sehr anders zu sein, als das hier in Europa.

Da sprichst du einen wunden Punkt an. Beide Seiten haben etwas Faszinierendes, und immer vermisse ich den anderen Teil. Es ist, wie wenn man zwei Leben im Herzen tragen würde, die aber nie eines werden können. In Argentinien bin ich „die Deutsche“, in Deutschland „die aus Argentinien. „Anhelar“ ist das spanische Wort für „sich nach etwas sehnen“. Deutschland und Europa vermitteln Ruhe, Ordnung, Ausgeglichenheit, Treue, langjährige Beziehungen. In Argentinien hingegen ist Trubel, Aufregung, Instabilität aber eben auch eine pulsierende Lebendigkeit. Deutschland ist meine Heimat, Argentinien mein Zuhause. Aber oft vermischen sich die Gefühle. Das ist der hohe Preis für ein Künstlerleben, immer aus dem Koffer, irgendwann entwurzelt zu sein.

Was sind deine kleinen Fluchten? Wie und wo tankst du auf? Was sind deine Kraftquellen?

Natur. Tiere. Pflanzen. Der Himmel. Wälder. Ruhe und Stille. Musik. Gute Filme und viele Bücher.

Ihr habt eine besondere Verbindung zu euren Fans in Deutschland. Wie kommt das?

Eine Sache ist es, Publikum zu unterhalten. Etwas ganz anderes, eine gesamte Kultur zu teilen, daran teilhaben zu lassen. Oft sagt uns das Publikum: es ist, als wären wir mit euch nach Argentinien gereist. Oder: wir wussten gar nicht, wieviel Facetten dieses Land hat. Die F.A.Z schrieb: eine Liebeserklärung an Argentinien. Es gibt niemanden im Publikum, den wir nicht wahrnehmen. Wir fühlen alles, Kunst, Musik, Tanz, Schauspiel geht durch uns durch. Das ist keine Maske, die wir aufsetzen, sondern wir erleben das, was wir zeigen. Immer wieder, als sei es ein erstes Mal. Immer anders. Immer variiert. Das Publikum wird dabei Teil von uns, wir nehmen es mit, es trägt uns dann. Das ist eine Symbiose, in der wir „oben“ und die „unten“ eins werden. Unsere Fans wissen das zu schätzen, diese Ehrlichkeit und Transparenz im Spiel auf der Bühne, die Tiefe, das Echte, Authentische. Nichts ist gekünstelt oder aufgesetzt. Sie begleiten uns, folgen uns, reisen mit uns, kommen nach Argentinien. Aber nicht um Fans von Nau/Pereyra zu sein, sondern Fans einer Kunstform, die es heute nicht mehr gibt. Wir sind die letzten Mohikaner. Der Tango beispielsweise, der vor 35 Jahren eine ganze Welt erobert hat, ist bei all der Kommerzialisierung unter die Räder gekommen. Wir aber tanzen ihn weiter, genau diesen Tango Argentino. So wie er war, als er diese unglaubliche innere Kraft hatte.

Welche Gefühle verbinden dich mit deiner Heimatstadt Düsseldorf? An was denkst du, welche Geruchserinnerungen bringen dich zum Beispiel direkt hierhin zurück?

Es ist der Rhein, der mir eine tiefe Verbundenheit an meine Kindheit schenkt. Wir haben damals an der Rheinallee 116 gewohnt: das Tuckern der Schiffe, die freie Sicht auf die Silhouette von Düsseldorf, die hohen Pappeln, das sind Bilder, die mich tief berühren. Und essen? Da ist es das Essen meiner Großmama: herrliche alte Rezepte, wie in Milch gekochte Korkenziehernudeln oder Wirsingeintopf. Sowas gibt es heute gar nicht mehr.

Ihr engagiert euch immer wieder ehrenamtlich. Welche Projekte unterstützt ihr?

Wir helfen wo wir können. Gerade ziehe ich eine zu Sylvester aus dem Nest gefallene Taube auf. Alle unsere Tiere (2 Katzen, 2 Hunde, 1 Schildkröte) sind Findelkinder. So helfen wir auch gerne anderen Menschen in Not, bringen regelmäßig Essen in die Kirche. 2018 haben wir das Frauenhaus Düsseldorf unterstützt, bei der Sammelaktion von Karstadt getanzt und so unsere Gage gespendet. Seit 15 Jahren unterstützen wir Futuro Si, die übrigens in 2019 ihr 25-jähriges Jubiläum haben: Im Oktober werden wir in der Tonhalle unsere große Show präsentieren – und auch diesmal auf unsere Gage verzichten. In Lünen sammeln wir bei unseren Aufführungen für das Kinderhospiz Geld, damit Eltern ihre Kinder in den letzten Monaten begleiten können. Auch hier in Argentinien helfen wir im Krankenhaus für krebskranke Kinder. Wir unterstützen auch die Brotzeit von Uschi Glas und ihrem Ehemann. Das sind alles Projekte, deren Mitarbeiter wir kennen – und wissen, dass unsere Hilfe auch voll ankommen wird.

Welche Pläne habt ihr 2019? Kommt ihr auch wieder nach Düsseldorf?

Ja, wir werden mit großer Company und neuen Programm auf Tournee gehen, die Weltpremiere ist in Wien. Am 26. Oktober stellen wir in der Tonhalle unsere neue Show VIDA! vor. 
Termine: www.vida.show


Kurzvita

Nicole NauNicole Naus Weg zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Tango-Tänze-rinnen der Welt ist außergewöhnlich. 1963 in Düsseldorf geboren. Don Bosco Schule, später Cecilien Gymnasium, Graphik Studium an der Fachhochschule Düsseldorf. Parallel arbeitete sie für renommierte Agenturen in Düsseldorf. 1988 sah sie die Show „Tango Argentino“. Dort erlebte sie zum ersten Mal ihren heutigen Ehemann und Tanzpartner – den faszinierenden Künstler, Startänzer aus Argentinien, Luis Pereyra. Fasziniert reiste sie nach Argentinien und verlor ihr Herz endgültig an den Tango. Nach der Ausbildung zur professionellen Tänzerin eroberte sie in kürzester Zeit einen herausragenden Platz in der argentinischen/internationalen Tango-Szene. 10 Jahre später ehrte sie der Staatspräsident als „beste Tangotänzerin“, die argentinische Post widmete ihr zwei Briefmarken. Erst 2000 begegnet sie Luis Pereyra wieder. Es begann ihre Liebesgeschichte und später kam es zu einer Zusammenarbeit. Luis Pereyra ist verantwortlich für den musikalischen Teil und die Choreographie ihrer Shows, sie hat als Designerin alle visuellen Bereiche übernommen: Licht- und Kostümdesign der hinreißenden Kleider, Make Up und Bühnenbild. Luis Pereyra führte sie ein in die Welt aller argentinischen Tänze und die des klassischen Balletts. So lernte sie afrikanische Rhythmen und Formen der Bewegung kennen neben der Strenge des russischen Balletts. Auch als Erzählerin und Schriftstellerin hat sie Erfolg: Sie führt als Moderatorin durch ihre Produktion „Se dice de mi“ und ist oft Gesprächspartnerin in Radio und TV. Ihre außergewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte erzählt sie in ihrem erfolgreichen Buch „Tanze Tango mit dem Leben“ (Bastei Lübbe Verlag, 2013). Gerne setzt sie sich für Hilfsbedürftige ein: Kinder in Not, Frauen in Not, Menschen in Not, nach dem Motto: Wo viel Licht ist, befindet sich auch viel Schatten. Im Herbst touren Nicole Nau und Luis Pereyra mit ihrer eigenen Company VIDA! in neuer Besetzung um die Welt. Gerade waren Sie in Paris, im Folies Bergère. Nicole Nau ist Member of CID UNESCO.


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