„Ich bin nicht pessimistisch. Das Zusammenleben in Deutschland ist tolerant und genügend abgefedert“
Interview mit Raphael Evers, Oberrabbiner Jüdische Gemeinde Düsseldorf
von Dr. Siegmar Rothstein
Seit September vorigen Jahres sind Sie Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Ist es Ihnen schwer gefallen, Ihr geliebtes Amsterdam zu verlassen und nach Deutschland zu gehen? Schließlich war Ihre Mutter im selben Zug mit Anne Frank nach Ausschwitz deportiert worden.
Ich meine, dass die Deutschen mindestens genauso gut oder vielleicht sogar besser mit ihrer „Kriegsvergangenheit“ umgehen, wie die Niederländer. Ich habe meine Entscheidung, nach Düsseldorf weg zu ziehen, mit meiner Mutter besprochen und sie konnte sich ihr anschließen. Auch für sie war die Jüdische Gemeinde Düsseldorf sehr wichtig. Ich habe eine sehr starke Mutter: sie hatte vor nichts Angst. Das Judentum verleiht so viel positive Kraft, dass wir diese überall und immer erleben und austragen können.
In Frankreich gab es in jüngster Vergangenheit erhebliche antisemitische Angriffe. Der frühere EU Kommissar Frits Bolkenstein sieht für die orthodoxen Juden in den Niederlanden keine Zukunft, sie sollten nach Israel oder in die USA auswandern. Glauben Sie, dass der Antisemitismus in Europa wächst?
Ich glaube, dass der Antisemitismus in Europa wächst. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns ängstlich in unser Schneckenhaus verkriechen müssen. Früher war ich sehr ängstlich, da unsere Generation und die unserer Kinder in einer überaus stark reduzierten Gemeinschaft aufgewachsen sind, in einer Familie, in der sehr viele Menschen – Großeltern, Tanten, Onkel, Neffen, Nichten – fehlten, da sie kaltblütig ermordet wurden aus einem einzigen Grund, weil sie Juden waren. Wir waren jedoch sehr stolz auf unser Judentum. Es ist ein Lernprozess: Du lernst mit Deinen Ängsten zu leben und damit umzugehen, sodass Du für eine positive Einstellung Energie behältst. Dadurch, dass wir oft mit außerordentlichen Umständen konfrontiert werden, habe ich bewusst eine Wahl getroffen, um nicht nur im Leben, sondern auch dem Leben gegenüber eine positive Einstellung zu haben.
Besteht auch für Deutschland die Gefahr eines stärker werdenden Antisemitismus? Gelegentlich wird ein Zusammenhang mit der Zunahme der muslimischen Bevölkerung hergestellt. Wie sehen Sie die Zukunft des deutschen Judentums?
Sehr positiv! Gerade in Deutschland wissen wir, dass wir aus unserem Judentum viel Kraft beziehen können. Je mehr Gegenwind einige Menschen spüren, desto positiver und praktizierender bringen sie sich in ihr Judentum ein. Viele haben sich von ihrem Judentum nach dem Zweiten Weltkrieg losgesagt. Aber wie sozialisiert Du auch sein magst, Du wirst laufend Deinem Judentum hinzugerechnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben doch wieder viele ihren Weg ins Judentum begonnen. Du stellst, grob geschildert, zwei Ergebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg fest: entweder eine ausdrückliche Abkehr oder eine feste Verbundenheit. Das Judentum in Deutschland hat die innige Verbundenheit gewählt. Ich schätze somit die jüdische Zukunft in diesem Land positiv ein. Nein, ich bin also nicht so pessimistisch. Das Zusammenleben in Deutschland ist tolerant und genügend abgefedert. Das Schöne an dem Zusammenleben in Deutschland ist: benimm dich normal, das ist dann schon verrückt genug. Was man wohl feststellt ist, dass alles durch die gemachten Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg viel schärfere Konturen erhalten hat.
Ist es Utopie, daran zu glauben, dass irgendwann Juden, Christen und Muslime überall in Frieden miteinander leben, sich gegenseitig anerkennen und sich nicht bekämpfen? Ist die Jahrhunderte lange Gegnerschaft vielleicht darin begründet, dass die monotheistischen Religionen glauben, die alleinige absolute Wahrheit zu besitzen, die ihnen jeweils von Gott offenbart wurde? Sind sie deshalb zwangsläufig intolerant?
Das ist keine Utopie. In Spanien des 14. Jahrhunderts war das möglich. Das Judentum ist durchgängig äußerst tolerant und steht nie mit ausgestrecktem Finger da, um andere zurecht zu weisen. Wir kennen keinen Zwang zur Bekehrung und sind gerade deswegen anderen Religionen sehr tolerant gegenüber. Der Talmud, das „Grundgesetz“ des Judentums, ist selbst eine große Diskussionsplattform und zu jedem Thema gibt es mindestens vier Meinungen. Wir sind davon überzeugt, die Wahrheit in der Offenbarung erhalten zu haben, aber wir zwingen nie Andersdenkenden das Judentum auf. Jeder kann jüdisch werden, auch wenn wir ihm oder ihr mindestens drei Mal davon abraten. In diesem Sinne ist das Judentum weder rassistisch noch nationalistisch und betrachtet weder Nationalität, Klasse, Hautfarbe oder Geschlecht als Faktoren. Aber doch sind Judentum und das Jüdische Volk als eine nationale Ethnie mit charakteristischen Merkmalen eng miteinander in Verbindung.
In der Thora, den fünf Büchern Moses, hat Gott Abraham und seinen Nachkommen das Land vom Nil bis zum Euphrat versprochen. Ist das für Sie eine Art Eintragung in das Grundbuch des Heiligen Landes, die das immerwährende Anrecht der Juden auf Israel begründet – in welchen genauen Grenzen auch immer – selbst, wenn sich dort über lange Zeit Juden nicht niedergelassen haben?
Ja, ich glaube fest daran, dass wir aufgrund der Biblischen Verheißungen letztendlich ISRAEL, also das GELOBTE LAND, zurückerhalten haben. Sowohl Volk wie Land heißen ISRAEL. Der Name bedeutet: „Ich habe mit Göttlichen Wesen gekämpft und gewonnen“. Land und Volk leben wie in einer Symbiose. Nur im Lande Israel kommt das Jüdische Volk zur Blüte und zur vollständigen Entfaltung. Nur dort sind alle Gebote, die der Thora zu entnehmen sind, umsetzbar. Nehmen wir das Sabbatical-Jahr als Beispiel: nur in Israel gilt die Pflicht, die Felder ein Jahr brach liegen zu lassen, nicht außerhalb. Auch nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n.d.Z. und der Zerstreuung der Juden über den Erdball bleibt das Jüdische Land in unserem religiösen Bewusstsein im Mittelpunkt stehen. In unseren täglichen Gebeten flehen wir für den Wiederaufbau von Jerusalem und für die Rückkehr ins Heilige Land. Wenn jemand außerhalb Israels beerdigt wird, erhält er oder sie ein bisschen Erde aus Israel mit ins Grab. Im Mainstream des traditionellen Judentums nimmt Israel auch heute eine zentrale Stelle im Glauben an die Jüdische Identität ein.
Israel lebt noch nicht in Frieden und gesicherten Grenzen. Um dies zu erreichen, wird neben Israel die Gründung eines Palästinensischen Staates vorgeschlagen. Diese Zweistaaten Lösung, also die Trennung nach Ethnien, Religion, Kultur und Sprache, wird in Israel sehr pessimistisch betrachtet. Offenbar findet man sich, jedenfalls auf absehbarer Zeit, mit dem Status Quo ab. Dieser Status Quo kann aber letztlich nicht zu Frieden und gesicherten Grenzen führen, ein Kompromiss müsste gefunden werden. Könnten Sie einen politischen Kompromiss akzeptieren, der Israel verpflichtet, auf Teile des in der Thora versprochenen alten jüdischen Kernlandes endgültig zu verzichten, wenn dieser begründeten Aussicht auf dauernden Frieden verspricht?
Die Jüdische Denkweise über Frieden bietet ein paradoxes Bild. Der Frieden steht in der jüdischen Philosophie und in der Praxis im Mittelpunkt, aber der Spruch: „Schlägst Du mich auf die eine Wange, dann kehre ich Dir auch die andere Wange zu“ ist christlichen Ursprungs. Das Judentum anerkennt das Recht auf Selbstverteidigung. Das Problem „Land für Frieden“ beschäftigt die Gemüter schon seit langer Zeit. „Land für Frieden“ ist für viele Israelis auch eine religiöse Frage, die Bezug nimmt auf die Biblischen Zeiten. Kirche und Staat sind in Israel getrennt. Jedoch spielt die Religion eine wichtige Rolle, auch in der Politik. Über die Abtretung von Gebieten als Tausch für Frieden wird sehr unterschiedlich nachgedacht; ich ordne sie den 3 nachstehenden Gruppen zu:
- die biblischen Argumente
- Argumente wegen Lebensgefahr und
- Argumente bezüglich Sicherheit.
Die erste Gruppe benutzt hauptsächlich BIBLISCHE Argumente, um Judäa und Samaria zu bevölkern. Für sie lautet die wichtigste Frage, welche Gebiete des Heiligen Landes durch Gott dem jüdischen Volk versprochen wurden. Den Erzvätern wurde vor 3.800 Jahren ein sehr ausgedehntes Groß-Israel zugesagt (Genesis). Die südliche Grenze bildete der Golf von Akaba und Suez. Im Norden verlief die Grenze entlang des Euphrat, im Westen und Osten dienten das Mittelmeer und die Arabischen Wüsten als Grenzen. So viel Fläche ist jedoch nie in jüdischen Händen gewesen. Nach dem Auszug aus Ägypten eroberten die zwölf Stämme Israels vor ungefähr 3.330 Jahren fast das gesamte Gebiet des modernen Staates Israel, mit Ausnahme eines Teils der Negev-Wüste, aber dem gegenüber stand eine beträchtliche Größe an Terrain im heutigen Jordanien. Als David und Salomo vor 2.800 Jahren das Zepter über das jüdische Land schwangen, wurde Israel sehr erweitert. Im Norden drangen sie bis zum Euphrat vor. Auch die Negev-Wüste gehörte zu ihrem Reich. Nach der griechischen und syrischen Herrschaft folgte der Zeitraum der Makkabäer. Bis zurzeit der Römer waren Judea und Samaria – die heutige Westbank – jüdisch. Die prophetischen Zusicherungen und die tatsächlichen Eroberungen im Laufe der Geschichte zeigen große Unterschiede auf. Hiervon unberührt gehörte die Westbank während dieser ganzen Periode zum alten Israel.
DAS JÜDISCHE GESETZ
Andere benutzen keine biblischen Argumente, aber nähern sich dem Problem „Land für Frieden“ aus Sicht des jüdischen Gesetzes. Diese Menschen sehen den Gedanken des Groß-Israel sich erst in Messianischen Zeiten bewahrheiten. Im Augenblick ist hiervon noch keine Rede. Für sie ist die Gefahr für das Leben der Soldaten und der Bevölkerung allgegenwärtig und übergeordnet. „Lebensgefahr geht vor Landbesitz und Biblischen Versprechungen“ lautet der Ausgangspunkt dieser zweiten Strömung.
SICHERHEIT
Die dritte Gruppe bezieht sich vollkommen auf das Kriegsrecht, das im jüdischen Kodex, dem Schulchan Aruch, beschrieben wird. Die Sicherheitsfrage ist im Kodex klar, eindeutig und unmissverständlich beantwortet. Diese dritte Gruppe verwirft alle, wie auch geartete, Zusagen ausländischer Mächte, die für Israels Sicherheit Garantien übernehmen möchten oder übernehmen. Die Zurückgabe beziehungsweise der Rückzug aus der Westbank ist unmöglich, da dieses Gebiet für Israels Sicherheit unverzichtbar ist, was im jüdischen Kodex wirklich höchste Priorität genießt. Über das Urteil von Politikern schert sich diese Gruppe übrigens wenig. Die haben in ihrem Hinterkopf oft ganz andere Überlegungen, als ausschließlich nur Sicherheit. Aber Judäa und Samaria sind immer jüdische Gebiete gewesen; die dürfen unter gar keinen Umständen zurückgegeben werden. Für sie gilt: „Frieden für Frieden“ und kein Land für Frieden!“ Ein selbstständiger Palästinenser-Staat vermindert die Aggressivität übrigens nicht. Dieses hat uns die Geschichte inzwischen schon gelehrt. Israel hat sich aus Gaza zurück gezogen, wird jedoch von dort aus immer noch täglich bedroht. Wie auch immer: letztendlich wird der Frieden kommen und das Jüdische Volk wird sich seiner Hauptaufgabe widmen können: der Entfaltung des spirituellen Potentials der Menschheit. Dann wird es sich auch bewahrheiten, dass „von Zion die Tora (die Lehre) ausgehen wird“. Israel muss ein geistiges Weltzentrum werden, letztendlich für alle Religionen. Es handelt sich schließlich nicht um territoriale Ansprüche, sondern um einen erhabenen religiösen Auftrag.
Zurück zu Ihrem Rabbinat in Düsseldorf. Verfolgen Sie besondere Ziele? Worauf legen Sie besonderen Wert?
Die Kontinuität des Jüdischen Volkes und des Judentums standen bei mir immer im Mittelpunkt. Das hat meine Entwicklung beflügelt. Ich habe mitbekommen, dass wir immer positiv und optimistisch zur Gesellschaft beizutragen haben. Das Gute im Menschen stand immer an vorderster Stelle. Auch meine jüdischen Lehrer waren immer eine Quelle von Hoffnung und Erneuerung.
Wollen Sie neben Ihrer Arbeit in der Gemeinde auch in die nicht jüdische Öffentlichkeit wirken?
Ja! In den vergangenen 200 Jahren hat sich praktisch viel für den Rabbiner verändert. Oft ist er – vor allem in kleineren Städten- der örtliche Vorsteher im Gebet und der Vorleser aus der Thora. Die Predigten mussten später in der Landessprache erfolgen. Der Rabbiner muss regelmäßig sprechen und bei allen Gelegenheiten gut gelaunt sein Interesse und seine „Eingebundenheit“ zeigen. Der Rabbiner nimmt inzwischen an allen sozialen, erzieherischen und philanthropischen Aktivitäten der Gemeinschaft teil. Oft ist er auch das Sprachrohr der Jüdischen Gemeinde in der Nicht-Jüdischen Gemeinschaft. In England, Frankreich, Süd-Afrika und den Niederlanden war und ist der Oberrabbiner in religiösen Angelegenheiten die höchste Autorität. Zugleich ist er „das Gesicht“ zur Nicht-Jüdischen Welt. In den USA und Kanada, wo die jüdischen Gemeinden in religiösen Angelegenheiten so gut wie unabhängig sind, werden die rabbinischen Aktivitäten oft viel breiter ausgelegt. Heutzutage muss der Rabbiner zu allen modernen Problemen Bezug haben, die sich sowohl in der religiösen wie in der säkularen Welt ereignen. Und ich erfahre dieses als positiv.
Haben Sie sich schon ein wenig eingelebt? Haben Sie Gefallen an Düsseldorf gefunden?
Ich bin sehr zufrieden. Düsseldorf ist eine äußerst lebendige und dynamische Gemeinschaft, die Arbeit außerordentlich interessant. Ich habe buchstäblich mit jedem Aspekt der Jüdischen Gemeinde zu tun.
Kurzvita
Raphael Evers wurde 1954 in Amsterdam geboren, ab 1990 Rabbiner in den Niederlanden und gleichzeitig ab 2008 Richter in jüdischen Angelegenheiten, seit 1. September 2016 Oberrabbiner in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Evers war geistlicher Führer der Gemeinden im Verband der Israelischen Kultusgemeinde der Niederlande und repräsentierte die niederländischen Juden in allen öffentlichen Angelegenheiten. Er schreibt regelmäßig in Zeitungen und Magazinen, vertritt den jüdischen Standpunkt bei vielen Gelegenheiten in Radio und Fernsehen. Er hat rund 30 Bücher geschrieben. Ihm wird umfassendes Wissen zugeschrieben über alles, was das Judentum betrifft. Er hat auch Psychologie, Konfliktlehre und Steuerrecht studiert. Evers ist verheiratet und hat 10 Kinder. 5 leben in Israel, ein Sohn in London und 4 in den Niederlanden. Die Mutter seiner Ehefrau stammt aus Deutschland.
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