23. Mai 2016In 2016/2

„In den Städten wird, insbesondere bei jüngeren Menschen, die Bedeutung des Autos als Statussymbol abnehmen“

Interview mit Jürgen Büssow, Regierungspräsident a.D.


von Christian Theisen

Herr Büssow, Sie waren 15 Jahre lang bis 2010 als Regierungspräsident in Düsseldorf tätig. Dort haben Sie einige durchaus umstrittene Entscheidungen in den Gebieten Kultur, Industrie und Internet getroffen. Wie sehen Sie heute mit 6 Jahren Abstand Ihre Sperrverfügung?

Ich bin heute noch der Auffassung, was offline nicht gestattet ist (Volksverhetzung, Rassismus, Antisemitismus – darum ging es ja damals), ist auch online nicht zu tolerieren. Diese Debatte hat ja nicht aufgehört. Im übrigen haben die angesprochenen Verwaltungsgerichte und das Oberverwaltungsgericht Münster – letzteres im Eilverfahren – der Bezirksregierung Düsseldorf recht gegeben. Die damaligen Provider-Firmen wollten es auf eine höchstrichterlichen Entscheidung, etwa vor dem BGH, nicht ankommen lassen. Natürlich ersetzt das Verwaltungshandeln nicht die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Inhalten. Die Hoffnung, dass das Netz sich selbst reguliert, ist jedenfalls nicht aufgegangen.

Das Internet wird ein immer zentralerer Wirtschaftsfaktor moderner Gesellschaften wie Deutschland. Die Bedeutung der Industrie hingegen nimmt ab. Eine gute Entwicklung?

Das Internet ist eine technische und gesellschaftliche Tatsache. Es hat gute und schlechte Seiten. Es erleichtert die Kommunikation und macht die Welt mitunter zum „global village“, in dem sich Leute treffen, die sonst nie zusammen gekommen wären. Das ist in jeden Fall eine Bereicherung. Eine der Herausforderungen des Internets besteht in der Glaubwürdigkeit der Quellen. Wenn ich mir eine Meinung über den Russland-Ukraine-Konflikt bilden will oder mir ein Bild über die verschiedenen Konfliktparteien in Nahost verschaf fen möchte, kommt immer die Frage auf: Kann ich den Informationen im Internet trauen? Wir beginnen gerade in Deutschland, wie in den USA, Frankreich und Großbritannien eine Gerechtigkeitsdebatte. Dabei geht es besonders darum, dass viele Menschen (40%) in unserer Gesellschaft wirtschaftlich und sozial abgehängt werden, während sich Vermögen und Einkommen bei wenigen konzentrieren (Thomas Piketty / Marcel Fratscher). Es stimmt nicht, dass die Bedeutung der IndustFinanzierie abnimmt. Vielmehr ist ihre Produktivität gewachsen und Deutschland ist immer noch der drittgrößte Exporteur von Industrieprodukten weltweit.

Sie engagieren sich in der Initiative „Zukunft durch Industrie“ für Deutschland als Industriestandort. Geht es dabei um den Erhalt alter Strukturen oder eher um einen Wandel innerhalb der Industrie?

Es geht um beides. Wir sind eine sehr wettbewerbsstarke Industriegesellschaft. Unsere mittelständischen Unternehmen (Maschinenbau, Automotiv, Chemie) sind nicht selten „Hidden Champions“. Aber ganz neue Erfindungen, die die tradier ten Geschäftsmodelle substituieren oder erneuern, kommen selten aus Deutschland. Alleine, wenn Elektro- Autos von Google, Apple, Facebook etc. zu erschwinglichen Preisen auf den Markt kämen, würde das große Bereiche der deutschen Automotiv- Industrie (Kupplungen, Zündkerzen, Einspritzanlagen, Wasserpumpen etc.) überflüssig machen. Wir müs sen einerseits diese Wettbewerbsfähigkeit erhalten und gleichzeitig Raum geben, für „disruptive innovation“. Erfindungen also, die das Potential haben, bisherigen Technologien abzulösen. Diese Entwicklungen sind mit der Digitalisierung der Industrie (Industrie 4.0) bereits voll im Gange. Wenn man die letzte Hannover- Messe besucht hat, sieht man, dass deutsche Unternehmen immer mehr Industrie-Roboter herstellen, gleichzeitig aber immer mehr amerikanische Firmen – z.B. Microsoft – die Steuerungssoftware dafür liefern. SAP kann das auch. Wir müssen aufpassen, dass wir im Prozess der Digitalisierung der Industrie nicht die Steuerungsfähigkeit der Industrieproduktion verlieren.

Heutzutage werden Internet-Start-ups zu Hoffnungsträgern unserer Wirtschaft stilisiert. Branchenkenner wissen aber, dass die guten Zeiten für Buchungsplattformen, Shopping-Clubs & Co. längst vorbei sind. Wie könnte die Industrie von dem frischen Gründerspirit mit seinen neuen Herangehensweisen profitieren?

Ich finde gut, dass wir jetzt in Deutschland auch einen Gründer-Trend für Internet-Start-ups haben, nicht nur in Berlin, Hamburg und München, sondern auch in Düsseldorf und im Ruhrgebiet. Sie haben es mit Ihrer Frage bereits angedeutet, und ich stimme darin mit Ihnen überein, dass die industrielle Zukunft der deutschen Wirtschaft dadurch nicht entschieden wird. Die hiesige Industrie sollte Programmierer, Physiker, Mathematiker, Chemiker, Biologen, IT-Techniker mit Konstruktionsingenieuren zusammenbringen oder wenigstens ingenieurtechnische Start-ups darin unterstützen, neue Wege zu gehen, die nicht nur der Optimierung bestehender Unternehmensziele dienen. Wenn diese Kultur in Deutschland nicht gelebt wird, werden wir neue Erfindungen aus den USA und zunehmend aus Asien importieren müssen.

Junge Unternehmer haben meist ein Finanzierungsproblem und gerade bei technischen Innovationen ist der Kapitalbedarf hoch. Banken und auch Venture Capital Gesellschaften geben in Frühphasen kein Geld. Es gibt zwar Business Angels, aber die sind rar und begrenzt in ihren Möglichkeiten. In den USA gibt es hingegen eine gänzlich andere Investmentkultur. Wird Deutschland diesen Nachteil jemals aufholen können?

Das kann ich nicht prognostizieren. Mit den vorhandenen Finanzierungsmodellen allein, soweit ich sie überblicke, wird das nicht einfacher werden. Mit KfW-Krediten oder Krediten von den Geschäftsbanken und Sparkassen wird das nicht gelingen. Es müssen auch Experten bei der Kreditvergabe vorhanden sein, die eine plausible Prognose über die industriellen Start-up-Ideen abgeben können. Die Hochschulen brauchen mehr Spielräume, um unabhängig von der Drittmittelforschung, neue Entwicklungen zu initiieren. Wenn die Hochschulen zunehmend Forschungsgelder von Unternehmen erhalten, dienen sie der Realisierung der Unternehmensziele. Vielleicht wären finanzstarke, unabhängige For schungsfonds ein Weg in die richtige Richtung. Wir sprechen zwar bereits seit 20 Jahren von Risikokapital, aber es ist doch offensichtlich schwer, dieses Kapital in Deutschland zu mobilisieren.

Düsseldorf positioniert sich neuerdings als Start-up-Metropole und möchte Berlin Konkurrenz machen. Mit über 10 Millionen Einwohnern im Einzugsgebiet gibt es auch ausreichend Potential. Welche Themen sollte Düsseldorf Ihrer Meinung nach besetzen, um für Gründer und Investoren international attraktiv zu sein?

Ich bin der Meinung, dass Düsseldorf ein interessanter internationaler Wirtschaftsstandort ist. Auch die geografische Lage kommt der Stadt zugute. Leider gibt es keine Ingenieur-Hochschule in Düsseldorf. Aber in der Region gibt es ingenieurwissenschaftliche Fakultäten und Lehrstühle. Dabei denke ich an die Universitäten Duisburg- Essen, Bochum, die TH-Dortmund, Wuppertal. Das Forschungszentrum Jülich und die RWTH-Aachen und die Uni-Paderborn sind auch nicht so weit entfernt. Wir haben fünf industrielle Schwerpunkte in Düsseldorf: Stahlherstellung, Anlagenbau, Automobilproduktion, Chemie und Telekommunikation. Wenn es zu einer Kooperation mit diesen Schwerpunkten auf den brachliegenden Industriegeländen kommen würde, mit den genannten Universitäten und Unternehmen, wäre das auch attraktiv für ausländische Start-ups aus China, Russland, Israel, USA und anderen Ländern. Aber es bedarf der Initialzündung. Es reicht nicht, Pläne zu schmieden, diese Ideen müssen umgesetzt werden. Dabei kann die Stadt helfen, das Land und auch die Bundesregierung. Was nicht sinnlich wahrnehmbar ist, bleibt abstrakt, vor allem bei dem Risiko-Attentismus, der die deutsche Mentalität auszeichnet.

In Ländern wie China oder der Türkei können Investitionsprojekte aufgrund schneller Genehmigungsverfahren meist zügig umgesetzt werden. Sehen Sie in Deutschland Gestaltungsspielraum, um wieder wettbewerbsfähiger zu werden?

Ich habe 15 Jahre eine Genehmigungsbehörde geleitet. Und wir wussten, dass langwierige Genehmigungsverfahren zu einem Standortnachteil werden können. Deshalb haben wir uns angestrengt, die Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Wir waren nachher die schnellste Genehmigungsbehörde in Europa, trotz unseres ausgeprägten Umwelt- und Beteiligungsrechtes, das wir immer eingehalten haben. Dafür braucht man allerdings ausreichend und qualifiziertes Personal. Wenn die Flächen entsprechend ausgewiesen sind, also Industrieflä chen, wüsste ich nicht, warum die Genehmigungsverfahren ein Hindernis sein sollten, neue Investitionsprojekte zügig voranzutreiben. Allerdings haben wir bei der Bezirksregierung die Bearbeitungszeiten erst dann gegen uns laufen lassen, wenn die Anträge vollständig waren. Die Unvollständigkeit der Genehmigungsanträge ist oftmals ein Grund für längere Verfahren. Wenn es komplizierter wurde, haben wir Antragsberatung geleistet.

Mit welchem Fahrzeug werden wir uns in 10 Jahren in Düsseldorf überwiegend fortbewegen?

Multimodal: ÖPNV, Fahrrad, Car-Sharing, temporäre genutzte Mietwagen mit Smart-Phones, Elektro-Autos und natürlich durchaus noch eigene Autos. In den Städten wird, besonders bei jüngeren Menschen, die Bedeutung des Autos als Statussymbol abnehmen. Es wird mehr um Mobilität, Flexibilität und Zeit-Effizienz gehen. Immer weniger Menschen werden bereit sein, durch langjähriges Abbezahlen ihres Autokredites, ihr Konsumverhalten einzuschränken.


Kurzvita

Jürgen BüssowJürgen Büssow wurde 1946 in Bad Godesberg geboren, nach Schulausbildung und Handwerkslehre Wehrpflicht und ab 1968 Studium der Sozialarbeit und der Erziehungswissenschaften mit Abschluss Diplom-Pädagoge. Ab 1975 Studienleiter der Erwachsenenbildung, Bergisch Gladbach. Referatsleiter in der Hans-Böckler-Stiftung (Deutscher Gewerkschaftsbund) sowie bis 1995 Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen, 1995 – 2010 Regierungspräsident des Regierungsbezirks Düsseldorf in NRW, bis 1995 Mitglied des Rundfunkrates WDR, Vorsitzender des Entwicklungsausschusses, ab 2010 Vorsitzender der „Grimmepreis-Freunde“ und Ehrenamtliches Vorstandsmitglied von „Zukunft durch Industrie“ e.V., seit 2014 Vorsitzender des Kunstvereins 701 e.V.


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