In Jakutien geboren … in Düsseldorf zu Hause
„In Jakutien sind Mensch und Natur noch eins„
von Tatiana Schäfers
Meine erste Begegnung mit Düsseldorf liegt fast 9 Jahre zurück. Damals lief ich nach dem Abendessen mit meinem zukünftigen Mann durch die Stadt und habe ihn gefragt, ob wohl heute eine Ausgangssperre besteht. Mich haben die leeren Straßen gewundert. Inzwischen ärgere ich mich heute selber, wenn es nach 22 Uhr draußen laut wird. Und ich schätze es sehr, dass man hier das Stadtleben mit Gemütlichkeit und Sicherheit vereinbaren kann, sich zum Beispiel am Freitag Nachmittag durch die Menschenmenge an der Kö drängen muss, aber am Wochenende mit netten Nachbarn im Garten grillen kann.
Vielseitig muss es immer sein, das lebt mir auch meine Familie in Russland vor. Mein Vater ist Minister für Telekommunikation und IT in einer der entferntesten und gleichzeitig technologisch fortgeschrittenen Regionen Russlands. Dabei ist er ein leidenschaftlicher Jäger und Angler, hat eine eigene TV-Sendung und propagiert den nachhaltigen und respektvollen Umgang mit Natur und Umwelt.
In Jakutien sind Mensch und Natur noch eins. Schließlich ist es auch nicht so einfach, 3 Quadratkilometer pro Einwohner zu bewältigen. Bei den extremen Temperaturunterschieden zwischen +35 C und -72 C muss sich der Mensch anpassen. Meine Mutter ist Bildungswissenschaftlerin, Buchautorin und Englischlehrerin, die Ihre Leidenschaft zum Gärtnern seit Jahren nicht aufgeben will, und das bei den extrem kurzen Sommern. Sie hat mir die Liebe zum Sprachenlernen in die Wiege gelegt. Ich bin schon zweisprachig aufgewachsen und hatte auch in der Schulzeit sehr viel Interesse für Fremdsprachen. Durch viele Wettbewerbe – bei uns Olympiaden genannt – durfte ich jedes Jahr als Stipendium einen Englisch- oder Französischkurs im jeweiligen Land besuchen. Mir war schon früh klar: ich werde im Ausland studieren. Doch meine Eltern hielten es für sinnvoller, die beste Uni in Russland zu besuchen, als eine 08/15 Uni irgendwo in Oklahoma. Dafür bin ich meinen Eltern unendlich dankbar. Ansonsten bin ich sehr selbstständig aufgewachsen, schließlich hatten meine Eltern für Erziehung nicht viel Zeit. Die Bürger Russlands erlebten damals wegen der Perestroika sehr schwierige Zeiten.
Ich war ein (Einkaufs-)Schlangenkind. Kaum zu glauben, aber dieses außergewöhnlich reiche Land war nicht in der Lage, genug Lebensmittel zu produzieren. Wir hatten Lebensmittelkarten: 2 Kilo Fleischprodukte im Monat pro Person, 200 Gramm Butter. Man musste sich für alles anstellen: 2 Liter Milch pro Person, 1 Liter Sauerrahm, 1 Fleischwurst, 2 Dosen Kondensmilch, 2 Tuben Shampoo. Ich habe damals auf meine Art sozusagen gedealt: In einer Schlage vor einem Geschäft stellte ich mich immer zu irgendeiner Frau, als wäre ich ihre Tochter. So haben wir für 2 Personen „abkassiert“. Die Frau behielt dann die Hälfte meines Anteils, und ich konnte mehr für meine Familie besorgen. Kassiererinnen konnten sich nicht jedes Kind merken.
Oder, wenn man sich ein Möbelstück kaufen wollte oder einfach neue Stiefel für den Winter, war es extrem schwer, überhaupt an irgend etwas zu kommen und wenn, dann war es extrem aufwändig. Man musste jeden Tag zu einem Aufruf erscheinen. Hatte man 3 Mal gefehlt, wurde man von der Liste der Anwärter wieder gestrichen. Es war klar, dass meine Eltern einfach mit Überleben beschäftigt waren.
Republik Sacha (Jakutien) Teil Russlands – von 1921 bis 1991 autonome Sowjetrepublik der Sowjetunion – ca. 3 Mio. Quadratkilometer, nur etwa eine Million Einwohner. Im 14. Jahrhundert wanderten die Jakuten aus dem südlichen Baikalgebiet ein. Im 17. Jahrhundert russische Einwanderung, Gründung der Hauptstadt Jakutsk am Lena Fluss. Sie ist nur mit einem Flugzeug zu erreichen. Das Beste in Jakutien: die Natur, das Schlimmste: die Natur – bezogen auf Myriaden von Mücken in den Sommermonaten. Kälteste Stadt der Welt, Oimjakon, Temperaturen bis -68°C. Das Gebiet verfügt über reiche Bodenschätze an Kohle, Gold, Diamanten, Zinn, Glimmer, Steinsalz und Erdgas, die jedoch wenig erschlossen sind. Sein Anteil an der weltweiten Diamantenförderung liegt bei über 13%, wobei Jakuten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion selbst das Recht besitzen, die Rohdiamanten zu verarbeiten. |
Alles hat sich dann über Nacht gedreht. Plötzlich waren alle Waren verfügbar, meistens Billigware aus China. Aber niemand konnte sie sich leisten, die Währung war nichts mehr wert. Letztendlich hat Vaters kaufmännisches Geschick mir eine sehr gute Ausbildung ermöglicht. Dafür musste ich aber mit 17 Jahren das Elternhaus verlassen und in das 6000 km entfernte Moskau reisen, um im Moskauer Institut für Internationale Beziehungen zu studieren.
Nach 5 Jahren war ich Spezialistin für internationale Wirtschaft mit vertieften Fremdsprachenkenntnissen. Mein Schwerpunkt war Japanisch. So habe ich 5 Jahre lang diese Sprache studiert, eine Note „sehr gut“ bekommen, um dann leider ab 2001 kein japanisches Wort mehr zu brauchen. Ich hätte Chinesisch studieren sollen, dort war ich beruflich sehr viel unterwegs. Oder Deutsch. Stattdessen habe ich Japanisch, Englisch und Französisch gepaukt.
Doch die Erfahrung, eine neue Sprache zu erlernen, war Gold wert, als ich mich 2007 entschloss, nach Deutschland zu ziehen. Damals war ich Leiterin einer Firma mit mehreren Tausend Mitarbeitern, hatte gerade eine Wohnung in Moskau renoviert und meine erste Ehe beendet. Ich hatte wenig Lust auf etwas Neues. Aber dann habe ich durch einen Freund diesen Deutschen kennengelernt. Genauer gesagt, kannten wir uns schon seit 2 Jahren – rein freundschaftlich. 2006 hat es plötzlich gefunkt und 2007 hat mir die deutsche Ausländerbehörde eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erteilt. Da habe ich alles stehen und liegen lassen und bin zu meiner großen Liebe nach Düsseldorf gezogen.
Ziemlich rechtzeitig kann ich heute sagen, da ich in diesem Jahr plötzlich sehr krank wurde und 3 Wochen mit unerklärlichen Blutwerten im Krankenhaus lag. Anfang 2008 mit 28 Jahren wurde bei mir Leukämie diagnostiziert. Darauf folgten Monate und Jahre, an die ich mich nicht sehr gut erinnern kann oder will. Mir war nur klar, dass es ein Gottessegen war, dass ich gerade in dieser Zeit in Deutschland lebte. Wäre ich in Moskau geblieben, würde ich wahrscheinlich diese Zeilen nicht mehr schreiben.
Wir haben trotz allem im Jahr 2008 geheiratet und hatten eine wunderschöne Hochzeit auf Schloss Hugenpoet in Essen. Heute bin ich in kompletter Remission und habe sogar einen Sohn geboren! In der Uni-Klinik Düsseldorf nennt man ihn „das erste Leukämie-Kind“ – Ärzte haben manchmal einen trockenen Humor, dafür leisten sie einen wundervollen Job. Ich bin froh, dass ich hier sein darf und kann mit voller Überzeugung sagen: Mein zweiter Geburtsort lautet: Düsseldorf.
Kurzvita
Tatiana Schäfers wurde 1979 in Jakutsk, UdSSR, geboren. 1996 nach Moskau gezogen, bis 2001 Moskauer Staatliches Institut für internationale Beziehungen, bis 2007 Moskau, Marketingmanagerin und später Geschäftsführerin der Firma TBOE (erfolgreiche Young Fashion Marke in Russland mit ca. 700 Filialen), 2007 – 2012 zwischen Moskau und Düsseldorf als angestellte Handelsvertreterin, später selbstständige Betriebswirtin, 2012 Geburt Sohn Louis. Seit 2014 selbstständig mit Onlineshop für Arbeitsschutzartikel, Unterstützung von Startups im Fashionbereich, Muttersprachen: Russisch und Jakutisch sowie Deutsch, Englisch, Französisch und Japanisch.
Ähnliche Beiträge
Resignation of US Consul General Stephen A. Hubler
Interview with US Consul General Stephen A. Hubler
„Das Theater ist in einem sich ständig erweiternden Prozess, und wir haben den Auftrag zur Bewahrung und zur Neufindung“
Interview mit Günther Beelitz, Generalintendant Düsseldorfer Schauspielhaus
„Eingefahrene Strukturen und Denkmuster verhindern die Chancengleichheit“
Interview mit Prof. Dr. Anja Steinbeck, Rektorin der Heinrich-Heine-Universität…
„Als Künstler muss ich unruhig bleiben“
Interview mit Martin Schläpfer, Direktor und Chefchoreograph des Balletts am Rhein