„Das einzige Anliegen meiner Arbeit ist, dem irren Mysterium der Lebenswirklichkeit durch bildnerische oder figürliche Beschwörung näher zu kommen“
Interview mit Bert Gerresheim, Bildhauer, Grafiker und Pädagoge
von Dr. Siegmar Rothstein
Im Oktober diesen Jahres haben Sie das achtzigste Lebensjahr vollendet. Sie blicken auf ein beeindruckendes und erfolgreiches künstlerisches Schaffen zurück, Sie wirken gesund, vital und sind immer noch tätig. Mit Düsseldorf sind Sie zeitlebens verbunden und werden als Glücksfall für diese Stadt bezeichnet. Schließlich ruhen Sie als Mitglied des weltlichen Franziskaner Ordens in christlicher Überzeugung. Sie müssen ein glücklicher Mensch sein.
Geburtstage? Jeder Tag ist ein Geburtstag und wenn man die Familie seit 1388 am Flusslauf der Düssel weiß, hört man auf, Geburtstage zu zählen, dann gehört Vater Rhein zur Familie und die Loreley ist eine extravagante Tante. Einen „ruhenden“ Franziskaner gibt es nicht. Franziskaner sind auf den Spuren des Franz von Assisi in einer Narrenweltwirklichkeit unterwegs. Was ein glücklicher Mensch ist, weiß ich nicht, die Lebenswirklichkeit bewegt sich im Spannungsfeld von Verwundung und Sehnsucht.
Wollten Sie immer schon Künstler werden oder kam auch ein anderer Beruf für Sie in Betracht? Ihr Vater führte eine Spedition, eigentlich sollten Sie in seine Fußstapfen treten. Wurden Sie in Ihrem Berufswunsch unterstützt oder gab es familiäre „Diskussionen“?
Wenn man von frühauf keine Wahl hatte und nur kritzeln, zeichnen und Figuren machen konnte, hatten eine herzwache rheinische Mutter und ein verständnisvoller Vater das Einsehen: „Lass ihn nur machen, etwas Vernünftiges kommt sowieso nicht heraus und nachher kann er zur Kunstakademie gehen“.
Sie haben sich künstlerisch von ihrem verehrten Lehrer Otto Pankok entfernt und surrealistisch gearbeitet. Sie wollten also nicht nur das darstellen, was wir sehen und kennen, sondern auch Träume, Visionen, Unwirkliches und Phantastisches. Lag das an Ihrer stillen Liebe zur Mystik?
Von meinem Lehrer Otto Pankok habe ich gelernt, dass Gesehenes, Geschautes oder Visionäres der Objektivierung durch Formgestaltung bedarf. Auch Visionäres hat in der Bildkunst Erscheinungsqualität zu erhalten. Was mir aber ebenso wesentlich erschien, war Pankoks künstlerische und moralische Integrität. Als ich durch die Erfahrung surrealistischer Kunstauffassung Bretons und durch die Begegnung mit Max Ernst und Hans Arp 1961 in Richtung Traum, Vision und Phantastik abdriftete und mir das Vexieren als Aussageform entsprechend erschien, um ein Bild von der Welt zu versuchen, war eine gewisse Distanzierung von der Welt Otto Pankoks vorprogrammiert. Aber seine menschliche Wahrhaftigkeit blieb mir immer verpflichtend und aus seinen 10 Künstlergeboten ist das eine ganz wesentlich: „Du sollst nur Deinen Träumen trauen“.
Als Bildhauer haben Sie sich auch sehr stark mit christlichen Themen beschäftigt und zahlreiche religiöse Skulpturen voller Spiritualität geschaffen. Wie sind Sie dazu gekommen? Befreundet sind Sie seit über 25 Jahren mit Kardinal Meisner, dem ehemaligen Erzbischof zu Köln. In seinem Auftrag haben Sie das Gastgeschenk für den Papst anlässlich des XX. Weltjugendtages geschaffen, eine faustgroße vergoldete Bronzeplastik der Heiligen Drei Könige.
Als Bildhauer hat man doch den Beruf des lieben Gottes, der aus Ton Figuren modellierte. Scherz beiseite: der bildnerische Mensch scheint etwas Archaisches zu haben. Otto Dix sagt: „Kunst ist Bannung“ – vielleicht sollte man hinzufügen „und Beschwörung“. Es geht darum, eine bild- oder figurenhafte Interpretation von Welt zu versuchen. Dazu gehört auch, die Heilswirklicht im Jetzt und Heute zu vergegenwärtigen, wenn auch nur schmerzlich fetzenhaft. Das hatte 1980 Johannes Paul II. den Künstlern abverlangt und so wurde unter dieser Perspektive ein faszinierendes Zusammenspiel zwischen Kardinal Meisner und dem Bildhauer möglich, weil ein Mensch mit großer Seelenspannweite als Auftraggeber einem Bildhauer schöpferische Offenheit zu schenken wusste.
Im Raum Kevelaer finden sich mehr als 50 Ihrer Plastiken, insbesondere auch Ihr monumentalstes Werk „Wiederkehr Christi“ am Portal der Marienbasilika. Gibt es eine besondere Nähe zu diesem Wallfahrtsort?
In den letzten Kriegsjahren vor 1945 war „Maria Kevelaer“ durch eine Gnadenbildkopie im Elternhaus präsent – nicht als Kunstdekor, sondern als Hoffnungsfetzen in hoffnungslos bedrohlicher Zeit. Das Ambiente war abgesteckt: der Vater als Soldat in Russland, der Onkel im KZ, die Familie unter Verdacht, jüdischer Abstammung zu sein und in ständiger Erwartung der häufigen Gestapobesuche. Sobald jemand an der Türe erschien, wurde aus Angst die Gnadenbildkopie durch ein ölstrotzendes Hitlerbildnis zum Schutz der Familiensituation überdeckt. Als ab 1986 Gestaltungsaufgaben aus dem Kevelaerer Ambiente kamen, war das eine beziehungsgeladene Herausforderung, die ihre Antwort auch in dem Endzeitbild „Kevelaerer Apokalypse“, dem Hauptfassadenbild der Basilika, mit seinen 260 Figuren fand.
Ihre Werke haben oft kontroverse Diskussionen ausgelöst. Einige Skulpturen waren bei der Aufstellung umstritten, weil sie den gängigen Erwartungen und Vorstellungen nicht entsprachen. Sie wollten aber nicht schmeicheln. Bei der Enthüllung Ihres Heine Mahnmals 1981 in Düsseldorf kam es zu Protesten. Mit der zerstückelten Totenmaske konnte sich Bundespräsident Carstens nicht anfreunden. Sie sollte aber wohl die innere Zerrissenheit Heines symbolisieren. Hat Kritik Sie berührt oder zu Änderungen in Ihren Arbeiten geführt? Heute sind Sie uneingeschränkt anerkannt und gelten als einer der bedeutendsten Bildhauer unserer Tage.
Kontroverse Diskussionen um ein Werk der bildenden Kunst im öffentlichen Raum können signalisieren, dass das diskutierte Bildwerk nicht den erwarteten angenehmen Design Effekt bedient, sondern eine formalästhetische und geistig spirituelle Aussage vergegenwärtigt, was immer zu denken gibt. Aber Gestaltungsänderungen oder Reduzierungen der projektierten Bildwerke wurde wurden nie notwendig, weil ich immer ein offenes Gespräch mit den kritischen Parteien gesucht habe, was hier und da sogar zur Erweiterung des Bildprogramms führen konnte.
Ein gutes Beispiel dafür, dass Sie nicht schönfärben wollen, sondern die kritische Realität darstellen, ist der von Ihnen geschaffene Marmorkopf Heines in der Walhalla bei Regensburg. Dort finden sich sonst nur geschönte und idealisierte Abbilder. Heine wird kränkelnd am Ende seines Lebens zerrissen dargestellt. Hat es viel Mühe gekostet, den zunächst vorhandenen hinhaltenden Widerstand zu brechen?
Das „Walhallaporträt“ Heinrich Heines war eine besondere Herausforderung und ein Vertrauenserweis des „Freundeskreises Heinrich Heine“, der mir unter der Leitung von Karl-Heinz Theisen diese Aufgabe anvertraute. Eine Herausforderung, weil in diesem Walhallaambiente vieler hervorragender Arbeiten bedeutender Bildhauer und in der Erwartung einer harmoniegezielten Formsprache ein Heineporträt, das die Leidenserfahrung des Dichters in seiner Matratzengruft thematisierte, in der Walhalla einen schmerzlich störenden Ton anschlug. Diese subversive Störung und Verletzung der Walhalla Heilsatmosphäre ist dem mutigen Einsatz Karl-Heinz Theisen zu danken, der damit den Walhalla-Marmorschlaf heilsam zu stören wusste.
Gab es besondere Schwerpunkte in Ihrer Arbeit, die erwähnt werden sollten? Oder Anliegen, die Sie bewegen?
Das einzige Anliegen meiner Arbeit ist, dem irren Mysterium der Lebenswirklichkeit durch bildnerische oder figürliche Beschwörung näher zu kommen.
Haben Sie noch Pläne? Im Düsseldorfer Stadtbild kommt man an Ihnen nicht vorbei. 30 kleinere oder größere Plastiken stehen auf Straßen und Plätzen. Darunter das schon erwähnte Heinedenkmal am Schwanenmarkt, das Kolbekreuz in der Rochuskirche und das gewaltige Stadterhebungsmonument am Burgplatz mit seinen 500 Einzelteilen. Dürfen wir noch weitere Plastiken in Düsseldorf erwarten?
Die Arbeit hört nicht auf. Auch einer, der seit Geburt stottert, hört im Rentneralter nicht auf zu stottern. Also versuche ich weiter, bronzene Puppen zu machen. In meiner Bildhauerwerkstatt entsteht zur Zeit ein Denkmal für Johanna Ey, die Mutter der Künstler der Moderne in Düsseldorf am Beginn des 20. Jahrhunderts. Da ich Mutter Ey 1947 noch begegnen durfte, ruft die Arbeit an diesem Bildwerk Erinnerung an Gestern wach und ist zugleich ein heutiges Danke an eine wunderbare Frau.
Im Übrigen wird das Clemens-Sels-Museum Neuss vom 29.11.2015 bis zum 7.2.2016 eine Ausstellung von Vexierbildern und Vexierplastiken zeigen unter dem Titel „Alles vexiert“.
Kurzvita
Bert Gerresheim wurde 1935 in Düsseldorf geboren, nach dem Abitur Studium von 1956 – 1960 an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Otto Pankok, im Anschluss Studien der Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik an der Universität Köln, 1963 Staatsexsamen für das künstlerische Lehramt, 1967 einjähriges Stipendium in der Villa Massimo in Rom, 1974-1978 Gast in der Villa Romana in Florenz. Neben seinem künstlerischen Schaffen war Gerresheim bis 1990 Studiendirektor am Düsseldorfer Lessinggymnasium.
Bis 1970 vor allem zeichnerisch tätig, hat er auch bildplastisch gearbeitet und bereits 1963 einen Auftrag zu einer größeren Bronzeplastik für die Fassade des Kunsthistorischen Instituts der Uni Köln ausgeführt, ab 1980 überwiegend als Bildhauer. Gerresheim hat unzählige Plastiken, Zeichnungen, Reliefs und Skulpturen geschaffen, er erhielt zahlreiche Preise: 1977 den Kunstpreis der Künstler Düsseldorf, 1979 den Förderpreis der Stadt Berlin, 1995 den Kunstpreis der Düsseldorfer Jonges und 1999 eine Ehrengabe der Stadt Rianxo Spanien, die ihn auch zum Ehrenbürger ernannte. .Gerresheim lebt in Düsseldorf
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